SG Mannheim

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Zitieren als:
SG Mannheim, Beschluss vom 10.08.2011 - S 9 AY 2678/11 ER [ASYLMAGAZIN 2011, S. 353 ff.] - asyl.net: M18854
https://www.asyl.net/rsdb/M18854
Leitsatz:

Verpflichtung im Wege der einstweiligen Anordnung, einem Asylsuchenden über den in § 3 AsylbLG geregelten Satz hinaus weitere 65,51 EUR monatlich als Darlehen zu gewähren, damit sein Existenzminimum gesichert ist. Die Wirkung der einstweiligen Anordnung ist bis zum 31.3.2012 befristet; bis dahin wird das BVerfG voraussichtlich über die Verfassungsmäßigkeit des AsylbLG entschieden haben.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, vorläufiger Rechtsschutz, Grundleistungen, Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, Darlehen, einstweilige Anordnung, Regelleistung, Sozialstaatsprinzip, Menschenwürde, Rechtsstaatsprinzip, Gewaltenteilung, Sachleistungen
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, AsylbLG § 3, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 1 Abs. 1, AsylbLG § 3 Abs. 3, GG Art. 20 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende mach dem SGB II festgestellt, dass die ursprünglich festgesetzten Regelsatzpauschalen verfassungswidrig waren. Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht sinngemäß ausgeführt, im Bereich der sozialstaatlichen (vgl. zum Sozialstaatsprinzip Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz - GG sowie Jarass/Pieroth, GG, 10. Auflage 2009, Art. 20 Rdnrn. 112 ff.) Existenzsicherung sei es von Verfassungs wegen erforderlich, dass die Bedarfsermittlung und die Festsetzung der Leistungshöhe auf einem transparenten, empirisch belegten und in sich schlüssigen Verfahren beruhe. Zudem sei es erforderlich, existenzsichernde Leistungen fortwährend zu überprüfen, bei Bedarf weiter zu entwickeln und den veränderten Verhältnissen anzupassen (vgl. hierzu Voßkuhle, Der Sozialstaat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, SGb 2011, Seiten 181 ff. sowie Janda/Wilksch, Das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem "Regelsatzurteil" des Bundesverfassungsgerichts, SGb 2010, Seiten 565 ff., Tießler-Marenda, Folgen des BVerfG-Urteils zum Existenzminimum für das AsylbLG. Asylmagazin 2010. Seiten 232 ff., Kingreen, Schätzungen "ins Blaue hinein": Zu den Auswirkungen des Hartz IV-Urteils des Bundesverfassungsgerichts auf das Asylbewerberleistungsgesetz, NVwZ 2010, Seiten 558 ff. und Rothkegel, Konsequenzen des "Hartz-IV-Urteils" des Bundesverfassungsgerichts für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ZAR 2010, Seiten 373 ff. sowie Classen/Kanalan, Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, Info also, 2010; Seiten 243 ff.). Diesen Anforderungen werden die Grundleistungen nach dem AsylbLG offenkundig nicht gerecht. Denn die Festsetzung der entsprechenden Leistungen im Jahre 1993 beruht nicht auf Ermittlungen zu den tatsächlichen Bedarfen der Asylbewerber und der sonstigen anspruchsberechtigten Ausländer. Das AsylbLG geht auf den sogenannten "Asylkompromiss" zurück und zielt somit in erster Linie darauf ab, "den Missbrauch des Asyls zu bekämpfen". Zu diesem Zweck sind die bislang gewährten Leistungen deutlich abgesenkt worden. Zudem sind die Leistungen bei Aufenthalten in Zentralen Anlaufstellen oder Gemeinschaftsunterkünften grundsätzlich in Sachleistungen umgestellt worden. Auch sonst (Aufenthalt außerhalb von zentralen Anlaufstellen/Gemeinschaftseinrichtungen) ist ein Vorrang von Sachleistungen eingeführt worden. Erst nach einer positiven Entscheidung im Verwaltungsverfahren bzw. einer positiven Regelung zum Bleiberecht sollen Leistungen in Höhe der Sozialhilfe gewährt werden. Damit handelt es sich bei dem AsylbLG im Kern um eine Regelung des Aufenthalts- und Niederlassungsrechts von Ausländern nach dem Asylverfahrensgesetz - AsylVfG (zur Entstehungsgeschichte des AsylbLG vgl. Oestrreicher, SGB II/SGB XII, Juni 2011, Einführung AsylbLG Rdnr. 1 f.). Da das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) jedoch unteilbar sind und nicht von der Nationalität bzw. dem ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus eines Bürgers abhängen (so ausdrücklich LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31.3.2010 - L 20 B 3/09 AY ER), erscheint diese Zielsetzung von vornherein äußerst zweifelhaft. Zudem muss beachtet werden, dass sich der Gesetzgeber in § 3 Abs. 3 AsylbLG selbst verpflichtet hat, die Höhe der Leistungen unter Berücksichtigung der Entwicklung der "tatsächlichen Lebenshaltungskosten" jährlich zum 1. Januar zu überprüfen bzw. anzupassen. Dies hat der Gesetzgeber konsequent unterlassen. Vor diesem Hintergrund spricht sehr viel dafür, dass die schon 1993 sehr knapp bemessenen Leistungen in der Zwischenzeit unter Berücksichtigung der Inflation bzw. der Teuerungsrate nicht mehr ausreichen, das menschenwürdige Existenzminimum zu sichern. Hiervon gehen auch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Beschlüsse vom 22.11.2010 - L 20 AY 1/09 und vom 26.7.2010 - L 20 AY 13/09) und das LSG Niedersachsen-Bremen (...) aus. In diesem Zusammenhang muss weiter berücksichtigt werden, dass der Gesetzgeber trotz der klaren Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vorn 9.2.2010, die ohne weiteres auch auf die Leistungen für Asylbewerber zu überragen sind, davon abgesehen hat, die Leistungen nach denn AsylLG in das Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) vom 24.3.2011 mit einzubeziehen. Dies wiegt umso schwerer, als selbst die Bundesregierung im Bundestag öffentlich erklärt hat, das Leistungssystem nach dem AsylbLG entspreche nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 und sei daher verfassungswidrig (vgl. hierzu Bundestags-Drucksachen 17/360 vom 10.11.2010 und 17/5016 vom 11.3.2011).

Vor diesem Hintergrund spricht nahezu alles dafür, dass der Antragsteller durch die derzeit gewährten Leistungen in seinem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz verletzt wird. Mit anderen Worten: Das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs steht mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit, wenn nicht sogar mit Gewissheit fest.

Aufgrund dieses Umstands verringern sich nach Auffassung des Gerichtes unter Beachtung der einleitenden Ausführungen die Anforderungen, die an die Feststellung des Anordnungsgrundes zu stellen sind. Da die Verfassungswidrigkeit und damit der Mangel, unter dem der Antragsteller derzeit leiden muss, offenkundig sind, kann tatsächlich nicht erwartet werden, dass der Antragsteiler die besondere Dringlichkeit der Angelegenheit bzw. die Tatsachen, die den Anordnungsgrund rechtfertigen, im Detail konkret vorträgt. Im Grunde genommen ergibt sich der Anordnungsgrund, solange dem Antragsteller die zur menschenwürdigen Existenzsicherung notwendigen Mittel vorenthalten werden, von selbst. Etwas anderes folgt auch nicht aus den Einwänden in der Antragserwiderung: Es trifft zwar zu, dass das AsylbLG im Gegensatz zum SGB II (und zum SGB XII) in größerem Umfang einmalige Beihilfen bzw. Sonderleistungen zulässt. Dies ist jedoch vorliegend unerheblich, denn durch solche einzelfallbezogene Beihilfen wird die grundsätzliche Verfassungswidrigkeit des AsylbLG nicht beseitigt. Denn zum Kern des Sozialstaats bzw. der Menschenwürde rechnet es gerade auch, dass jedem Bürger ein gewisses Budget zur Verfügung stehen muss, über das er frei verfugen kann. Ein System, das für jeden einzelnen Bedarf, sei er noch so klein und für sich alleine betrachtet nahezu bedeutungslos, einen eigenen Antrag und eine eigenständige Überprüfung durch die zuständige Behörde voraussetzt, würde dem nicht gerecht. Zudem führt die Antragsgegnerin selbst aus, dass (insbesondere durch § 6 AsylbLG) "eine allgemeine Erhöhung der Regelleistungen ... nicht in Betracht" kommt.

Vor diesem Hintergrund sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich gegeben.

Einschränkend muss jedoch in rechtstheoretischer Hinsich beachtet werden, dass sowohl die Verwaltung als auch das Gericht an die bestehenden Gesetze gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG - Rechtsstaatsprinzip) und lediglich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einem konkreten Normenkontrolle nach Art 100 Abs. 1 GG die Befugnis hat, ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz außer Kraft zu setzen (hierzu Jarras/Pieroth, GG, l0. Auflage 2009, Art. 100 GG Rdnr 1). Vor diesem Hintergrund hat das LSG Nordrhein-Westfalen trotz seiner oben dargestellten Auffassung in einem Eilverfahren davon abgesehen, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, da dies den Grundsatz der Gewaltenteilung verletzen würde (Beschlüsse vom 1.6.2010 - L 20 AY 4/10 BER vom 4.8.2010 - L 20 AY 47/10 B ER RG, vom 23.9.2010 - L 20 AY 69/10 B ER und vom 27.9.2010 - L 20 AY 79/10 B ER sowie LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.4.2011 - L 23 AY 7/11 B ER). Dieses Argument trifft zwar grundsätzlich zu; die entsprechende Schlussfolgerung ist aber gleichwohl nach Auffassung des Sozialgerichts nicht zwingend. Falls das Bundesverfassungsgericht - wofür vieles spricht - die angegriffenen Normen des AsylbLG in den erwähnten Normenkontrollverfahren beanstanden wird, ist offen, ob es eine Korrektur der Gesetzeslage nur und erst für die Zukunft einfordern oder ob es von der Möglichkeit Gebrauch machen wird, den Gesetzgeber - zumindest für die Fälle, in denen die entsprechenden Bescheide noch nicht bestandskräftig geworden sind, zu einer rückwirkenden Korrektur zu verpflichten. Den ersten Weg hat das Bundesverfassungsgericht in seinem bereits angeführten Urteil vom 9.2.2010 zur Regelsatzbemessung im Bereich des SGB II gewählt. Denkbar ist aber auch die zweite Variante (vgl. hierzu bspw. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07). Denn im Falle der Nichtigerklärung von Gesetzen hat das Bundesverfassungsgericht nach §§ 82 Abs. 1 i.V.m. 78 Bundesverfassunsgerichtsgesetz (BVerfGG) einen Entscheidungsspielraum und kann somit den Zeitraum, auf den sich seine Entscheidung nach Art. 100 Abs. 1 GG (bzw. § 13 Abs. 1 Nr. 11 BVerfGG) erstreckt, frei bestimmen. Da selbst die Regierung von der Verfassungswidrigkeit ausgeht und der Gesetzgeber das Urteil das Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 nicht zum Anlass genommen hat, die sich aufdrängenden Korrekturen im Bereich des AsylbLG "in Angriff zu nehmen", erscheint es nicht ganz fernliegend, dass das Bundesverfassungsgericht vorliegend von der zweiten Variante Gebrauch machen wird.

Diese Ungewissheit schließt den Erlass einer einstweilige Anordnung nicht von vornherein aus, denn in besonders sensiblen, grundrechtsrelevanten Konstellationen kann eine einstweilige Anordnung auch dann ergehen, wenn die hierfür erforderliche Rechtsüberzeugung nicht mit voller Gewissheit gewonnen werden kann (vgl. hierzu Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage 2008, Rdnrn. 284 ff.). Allerdings kann das Gericht diesen Gesichtspunkt bei dem Inhalt seiner Entscheidung nicht vollkommen ausblenden. Daher ist es nach Auffassung des Gerichts gerechtfertigt, dem Antragsteller trotz der evidenten Verfassungswidrigkeit der Vorschriften des AsylbLG nicht die vollen Leistungssätze des SGB XII bzw. des SGB II zuzusprechen. In diesem Zusammenhang muss weiter beachtet werden, dass der Umstand, dass der Antragsteller im Rahmen des AsylbLG lediglich Sachleistungen bzw. Wertgutscheine erhält, keinen Verfassungsverstoß darstellt. Denn die besondere Situation der Asylbewerber (noch ungeklärter ausländerrechtlicher Status, Unterbringung in einer Gemeinschaftseinrichtung) rechtfertigt - zumindest nach der in einem Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage - diese besondere Form der Leistungserbringung. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die für das SGB II bzw. SGB XII maßgebliche aktuelle Regelleistung von 364,00 E monatlich (Regelbedarfsstufe 1 nach § 28 SGB XII) nach § 5 RBEG (Abteilung 4) auch 30,24 Euro für den Bedarf "Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung" beinhaltet. Dieser Bedarf fällt beim Kläger, der in einer Gemeinschaftseinrichtung untergebracht ist, jedoch nicht an. Vielmehr reicht es - zumindest bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage im Rahmen eines Eilverfahrens - insoweit aus, wenn der Antragsteller auf die Abteilung 5 ("Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände") verwiesen wird (= 27,41 Euro).

Daher hält das Gericht folgende Berechnung für sachgerecht. Ausgehend von der Regelleistungen in Regelbedarfsstufe 1 (364,00 Euro) verbleiben zu Gunsten des Antragstellers nach Abzug von 30,24 Euro (Abteilung 4 § 5 RBEG) monatlich 333,76 €. Die dem Antragsteller derzeit zur Verfügung gestellten Sachleistungen haben monatlich einen Wert von 202,73 Euro, so dass der ungedeckte Bedarf monatlich 131,03 Euro beträgt. Aufgrund der oben dargestellten rechtlichen Unsicherheit (rückwirkende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) hält es das Gericht für sachgerecht, insoweit "halbe-halbe zu machen". Dies bedeutet, dass der Antragsteller zusätzlich zu den bereits bezogenen Sachleistungen im Rahmen der einstweiligen Anordnung ab sofort monatlich ein ergänzendes Darlehen von 65,51 Euro beanspruchen kann. Für August 2011 sind dies (ab 3.8.) 61,29 Euro (65,51 Euro/31 x 29).

Da das Bundesverfassungsgericht nach Information des Gerichts beabsichtigt, die bei ihm anhängigem Normenkontrollverfahren zu den Vorschriften des AsylbLG nach Möglichkeit noch im Laufe des Kalenderjahrs 2011 abzuschließen, hält es das Gericht für angemessen, die Wirkungen dieser einstweiligen Anordnung (großzügig) bis zum 31.3.2012 zu befristen. Darüber hinaus enden die Wirkungen dieser einstweiligen Anordnung bei Eintritt der unter Ziffer 2 des Tenors angeführten Bedingungen. [...]