VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 05.08.2011 - RO 2 K 10.30363 - asyl.net: M18855
https://www.asyl.net/rsdb/M18855
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG wegen Exilpolitik für die JEM (Justice and Equality Movement).

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Sudan, Exilpolitik, Nachfluchtgründe, JEM, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Von diesen Maßstäben ausgehend kann der Kläger die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG beanspruchen. Zwar hat der Kläger nach Überzeugung des Gerichts im Herkunftsland keine relevante Verfolgung erlitten. Dem Kläger droht jedoch wegen beachtlicher Nachfluchttatbestände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Die Angaben des Klägers zu seiner angeblichen Verfolgung im Sudan sind unglaubwürdig. Der Kläger gibt selbst an, im Sudan keiner politischen Bewegung oder Organisation angehört zu haben. Zwar will er während seiner Studentenzeit bei Veranstaltungen mitdiskutiert haben. Nach Aufgabe seines Studiums im Jahre 2003 hat er jedoch an keiner weiteren Veranstaltung mehr teilgenommen oder sich anderweitig politisch engagiert. Seine Behauptung, er sei noch im Mai 2008 auf der Straße festgenommen worden, weil die sudanesische Regierung angenommen habe, er würde den bewaffneten Widerstand unterstützen, ist daher nicht überzeugend. Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Bescheides und verweist hierauf (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

Dem Kläger droht jedoch auf Grund beachtlicher Nachfluchttatbestände eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Wie der Kläger erstmals im Gerichtsverfahren vorgetragen hat, ist er für die Organisation JEM (Justice and Equality Movement) exilpolitisch tätig. Bei einer Wiedereinreise in den Sudan drohen ihm deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verhaftung und Folter.

Die sudanesische Regierung betrachtet die JEM als terroristische Organisation (vgl. hierzu Zusammenstellung des Analysereferats des Bundesamts, vorgelegt mit Schriftsatz der Beklagten vom 11.07.2011). In den Tagen nach dem Angriff der JEM auf Omdurman im Mai 2008 hat der sudanesische Inlandsgeheimdienst die Straßen von Khartum und Omdurman nach angeblichen JEM-Mitgliedern durchkämmt und zahlreiche Zivilisten verhaftet. Insgesamt sind etwa 1000 Personen festgenommen worden. Es fanden Hausdurchsuchungen statt. Dabei verhaftete der Geheimdienst oft ganze Familien. Personen wurden aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Dialekts und ihrer vermuteten ethnischen Identität festgenommen. Die Festnahmen betrafen nicht nur Personen, die aus Darfur stammen. Von den Verhafteten wurden einige mehrere Tage, andere mehrere Monate lang festgehalten, ohne dass die Regierung Angaben über ihren Verbleib machte. Der oberste Richter des Sudan schuf in Absprache mit dem Justizminister am 29.05.2008 Sondergerichte, die allein bis Januar 2010 106 Todesurteile verkündet hatten. Nach Abschluss eines Abkommens mit der JEM ließ die sudanesische Regierung zwar 57 Inhaftierte frei. Bis Juli 2010 war jedoch der Verbleib und das Schicksal von ca. 200 Verhafteten nach wie vor ungeklärt (amnesty international v. Juli 2010, AFR 54/010/2010).

Auch abgelehnten Asylbewerbern, die in der JEM aktiv waren, droht bei ihrer Rückkehr in den Sudan Inhaftierung, Misshandlung und Tötung. Das Refugee Documentation Centre (Ireland) listete im Juni 2010 auf Grund von Presseberichten und Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehrere Fälle auf, in denen rückgeführte abgelehnte Asylbewerber Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren (vgl. Zusammenstellung des Analysereferats des Bundesamts, vorgelegt mit Schreiben der Beklagten vom 11.07.2011). Es ist davon auszugehen, dass der sudanesischen Regierung exilpolitische Betätigungen von Asylbewerbern bekannt werden. Der sudanesische Geheimdienst beschäftigt sich im Ausland und insbesondere auch in Deutschland mit der Überwachung und Kontrolle von sudanesischen Oppositionsbewegungen. Vor dem Hintergrund des andauernden Bürgerkrieges in Darfur, der mit allgemeinkundigen Menschenrechtsverletzungen und einer Unzahl von Opfern der Zivilbevölkerung einhergeht, interessiert sich der Nachrichtendienst besonders für hier aufhältige Mitglieder von Oppositionsbewegungen und deren Unterstützer, die sich mit den Vorgängen in Darfur befassen. Die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse werden im Sudan ausgewertet (vgl. KG Berlin vom 08.05.2008 Az. 3 StE 1/08 <juris>). Dabei gilt nicht zuletzt wegen des Überfalls auf Omdurman den Mitgliedern der JEM das besondere Augenmerk der sudanesischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden. Es dürfte diesen Stellen bekannt sein, wer sich in Deutschland in der JEM aktiv exilpolitisch betätigt (vgl. die Zusammenstellung des Analysereferats des Bundesamts, vorgelegt mit Schriftsatz der Beklagten vom 11.07.2011). Zu beachten ist dabei zwar, dass nicht jede politische Aktivität von Sudanesen im Ausland beobachtet wird. Eine solche umfassende Beobachtung dürfte die finanziellen, technischen und personellen Möglichkeiten der sudanesischen Regierung überschreiten. Im Blickpunkt der Regierung dürften jedoch solche Personen stehen, die sich auf Grund besonderer Umstände aus dem eher anonymen Kreis der bloßen Teilnehmer an politischen Veranstaltungen von Exilorganisationen herausheben (vgl. VG Karlsruhe vom 14.12.2009 - Az. 9 K 2104/07 <juris>; VG Potsdam vom 05.03.2003 - Az. 14 K 3909/99.A <juris>; VG Gera vom 23.01.2003 - Az. 4 K 20396/02.GE <juris>).

Solche besonderen Umstände liegen beim Kläger vor. Der Kläger ist nicht nur einfaches Mitglied in der JEM, sondern Vorstand der JEM-Niederlassung in Bayern. Er organisierte im November 2010 und im Mai 2011 Vortragsabende über den Völkermord in Darfur. Im April 2011 hielt er einen politischen Vortrag über die Situation in Darfur an der Beruflichen Oberschule in Würzburg. Über diese Aktivitäten des Klägers ist in den Medien und auf der Homepage der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg berichtet worden. Dabei wurden Fotos des Klägers veröffentlicht und der Kläger namentlich benannt. Weiter veröffentlichte der Kläger auf der Internetseite www.sudanjem.com unter seinem Namen den Völkermord in Darfur betreffende Nachrichten, die auch aktuell noch abrufbar sind, Schließlich steht er mit dem Sudankoordinator am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in Schriftverkehr. Diese Umstände heben den Kläger aus dem Kreis der eher anonymen Mitglieder exilpolitischer Organisationen deutlich heraus, so dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass er im Blickpunkt sudanesischer Sicherheitsdienste steht und im Falle einer Rückkehr in den Sudan Verfolgungen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sein wird. Auch das Bundesamt selbst kommt in der vorgelegten Zusammenstellung des Analysereferates zu dem Ergebnis, dass es nicht undenkbar erscheint, dass es den sudanesischen Behörden daran gelegen sein könnte, am Kläger zur Abschreckung ein Exempel zu statuieren. [...]