VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2011 - 5 V 46/11.A - asyl.net: M18871
https://www.asyl.net/rsdb/M18871
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Abschiebung eines psychisch kranken Angehörigen der Roma-Minderheit nach Montenegro, nachdem der Asylantrag vom BAMF als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt worden war.

1. Um die Behandelbarkeit der festgestellten Erkrankung im Heimatland hinreichend beurteilen zu können, hätte es zunächst der weiteren ärztlichen Klärung bedurft, welche Ursachen für die psychische Erkrankung verantwortlich sind und welche Therapiemöglichkeiten sich daran anknüpfen. Gerade im Hinblick auf den Verdacht eines Hirntumors sind noch weitere eingehende Untersuchungen notwendig. Gleiches gilt für die kardiologische Abklärung der hypotonen Krisen.

2. Roma haben in Montenegro zwar grundsätzlich Zugang zu allen staatlichen Einrichtungen und Dienstleistungen. Allerdings stellt die Registrierung in der Praxis ein ernsthaftes Hindernis dar, dessen Überwindung für den Antragsteller jedenfalls in der derzeitigen Verfassung fraglich ist.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Montenegro, Roma, offensichtlich unbegründet, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Registrierung
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 36 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Auf der Grundlage des bisherigen Vorbringens der Beteiligten und der im Rahmen des Eilverfahrens zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass für den Antragsteller eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Falle seiner Rückkehr tatsächlich zu besorgen ist.

In seiner ärztlichen Stellungnahme vom 13.01.2011 zum Gesundheitszustand des Antragstellers gelangt der Psychiater Dr. ... vom Gesundheitsamt Bremen zu der Einschätzung, dass der Antragsteller schwer psychisch krank sei. Er stützt diese Einschätzung auf die Durchführung von insgesamt sechs Untersuchungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt worden sind. Die Ursache für die psychische Störung sieht der Psychiater nach den bisher gezeigten Symptomen und den durchgeführten Voruntersuchungen in einer organischen Grundstörung oder Vorschädigung. Es bestehe der Verdacht einer cerebralen Raumforderung (Hirntumor). Es hätten sich auch entsprechende Auffälligkeiten des Gehirns im MRT gezeigt. Auch die Störungen in den Bewegungsabläufen deuteten auf eine organische Ursache hin. Der Antragsteller bedürfe dringend der nervenärztlichen Behandlung und der Versorgung mit Medikamenten. Außerdem sei aufgrund jüngst eingetretener hypotoner Krisen eine kardiologische Abklärung notwendig.

Um die Behandelbarkeit der festgestellten Erkrankung im Heimatland des Antragstellers hinreichend beurteilen zu können, hätte es zunächst der weiteren ärztlichen Klärung bedurft, welche Ursachen für die psychische Erkrankung verantwortlich sind und welche Therapiemöglichkeiten sich daran anknüpfen. Gerade in Hinblick auf den Verdacht eines Hirntumors sind wie Herr Dr. ... ausführt - noch weitere eingehende Untersuchungen notwendig. Gleiches gilt für eine kardiologische Abklärung der hypotonen Krisen. Einer solchen weiteren Aufklärung der nach Stellungnahme eines Amtsarztes offenkundig bestehenden schweren Erkrankung des Antragstellers ist die Antragsgegnerin nicht weiter nachgegangen. Um die Behandelbarkeit einer Krankheit im Zielstaat der Abschiebung hinreichend beurteilen zu können, müssen aber Art und Ausmaß der Erkrankung zunächst einmal medizinisch ausreichend abgeklärt werden. Daran fehlt es bisher. Insbesondere mit Blick auf eine mögliche Krebserkrankung des Antragstellers, der Schwere der psychischen Erkrankung und der Anzeichen für eine Herzerkrankung kann auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse nicht hinreichend beurteilt werden, ob für den Antragsteller in Montenegro eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet wäre.

Darüber hinaus kann entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ohne weitere Aufklärung auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller allein in Hinblick auf seine schwere psychische Erkrankung überhaupt einen Zugang zu einer fachärztlichen Behandlung im Falle einer Rückkehr nach Montenegro findet. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (letzter Stand Ende Januar 2006) und den im Bescheid angeführten Auskünften der deutschen Botschaft in Belgrad bestehen zwar in Montenegro grundsätzlich ausreichend Möglichkeiten, psychische Erkrankungen behandeln zu lassen. Allerdings erfolgt die Behandlung aufgrund des vorherrschenden medizinischen Ansatzes vorwiegend medikamentös. Andere Therapieformen stünden in begrenztem Umfang zur Verfügung. Es sind indes erhebliche Zweifel daran begründet, ob es dem Antragsteller mit Blick auf seine schwere psychische Erkrankung gelingt, die vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten auch in Anspruch zu nehmen. Roma haben in Montenegro zwar grundsätzlich Zugang zu allen staatlichen Einrichtungen und Dienstleistungen. Allerdings stellt die Registrierung in der Praxis ein ernsthaftes Hindernis bei der Ausübung grundlegender Rechte wie des Zugangs zu Sozialleistungen, Gesundheitsfürsorge, Bildungseinrichtungen und Wohnraum dar. Eine Registrierung setzt voraus, dass die Antragsteller eine Reihe von Identitätsunterlagen vorlegen können. Die Überwindung dieses Hindernisses für den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung in seinem Heimatland erscheint für den Antragsteller jedenfalls in seiner derzeitigen Verfassung - wie sie in der Stellungnahme von. Herrn Dr. ... eingehend beschrieben wird - als fraglich. Es ist unter den derzeitigen Gegebenheiten in Montenegro nicht davon ausgegangen, dass ein minderbegabter, ängstlicher und schwer psychisch kranker Mann dazu in der Lange ist, seine Registrierung trotz bürokratischer Hindernisse in Montenegro ohne fremde Hilfe durchzusetzen. Staatliche Unterstützung hilfloser Personen bei der Registrierung gibt es in Montenegro nicht. Hilflose Personen können zwar auch in Montenegro ein Vormundschafts- oder Betreuungsverhältnis eingehen. Dieses setzt jedoch wie die Mehrzahl der öffentlichen Dienstleistungen eine vorherige Registrierung voraus. Eine Unterstützung bei der Registrierung ist dementsprechend nur auf privater Basis durch Verwandte oder Bekannte oder aber durch nationale oder internationale Nichtregierungsorganisationen vorstellbar. Es gibt aber bisher keine Nichtregierungsorganisationen oder andere Wohlfahrtsorganisationen, die sich um Rückkehrer kümmern (vgl. Auswärtiges Amt an VG Sigmaringen vom 21.10.2004; Auskunft der IOM, ZC290/03.12.09).

Ob die in Montenegro lebenden Verwandten sich um den Antragsteller kümmern und für seine Registrierung Sorge tragen würden, erscheint zumindest nach dem Vorbringen des Antragstellers in seiner Anhörung vor dem Bundesamt zweifelhaft. Der Antragsteller hat nach eigenen Ausführungen während seines letzten Aufenthaltes offenbar keinen Zugang zu staatlichen Leistungen gefunden. Auch entsprechender Wohnraum soll weder ihm noch seinem Bruder zur Verfügung gestellt worden sein. Eine Registrierung als Grundvoraussetzung für staatliche Sozialleistungen und den Zugang zum Gesundheitswesen ist während des letzten Aufenthaltes offenbar nicht erreicht worden. Auch eine Aufnahme und finanzielle Unterstützung durch die in Montenegro lebenden Onkel und Tante des Antragstellers kann für den Fall einer Rückkehr nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Die diesbezügliche Annahme der Antragsgegnerin lässt eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Antragstellers zu seiner Lebenssituation während seines letzten Aufenthaltes in Montenegro nicht erkennen.

Ohne hinreichende Aufklärung darüber, welche Erkrankung bei dem Antragsteller vorliegt, welcher Behandlung er bedarf und welche Vorkehrungen für den Fall einer Rückkehr deshalb getroffen werden müssen, kann eine Entscheidung über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mit hinreichender Sicherheit getroffen werden. Hierzu bedarf es noch der weiteren Aufklärung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens. [...]