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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 10.08.2011 - 542286-150 - asyl.net: M18892
https://www.asyl.net/rsdb/M18892
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Angehörigen der Roma-Minderheit aus dem Kosovo (Multimorbidität, 100 % Schwerbehinderung).

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Roma, Wiederaufnahme des Verfahrens, Herzerkrankung, Hypertonie, Depression, Diabetes mellitus, medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Schwerbehinderung, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die für den Wiederaufgreifensantrag angegebene Begründung führt zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Republik Kosovo auszugehen ist.

Hinsichtlich der zahlreichen dem Antragsteller diagnostizierten Erkrankungen ist vorab festzustellen, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 des AufenthG auch dann vorliegen kann, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. [...]

Hinsichtlich des multimorbid erkrankten Antragstellers wird in diesem Zusammenhang Bezug genommen auf die Ausführungen in dem Urteil des VG Münster vom 09.07.2008 (Az.: 6 K 365/07.A), in dem ausgeführt wird, dass sich ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben kann, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer die erforderliche medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann.

Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben bestehe auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung stehe, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich sei.

Vielmehr sei zugrunde zu legen, dass, nach den vorliegenden Erkenntnissen die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung im Kosovo noch nicht gewährleistet sei. Auch wenn ihre Wiederherstellung Priorität genieße, sei festzustellen, dass sie aufgrund fehlender Ressourcen nur langsam voranschreite und die Verfügbarkeit medizinischer Geräte und von Medikamenten für Patienten aufgrund von Korruption und anderer Unregelnmäßigkeiten nicht gesichert sei. So seien z. B. die Möglichkeiten, im Kosovo komplizierte Behandlungen oder operative Eingriffe vorzunehmen, noch sehr begrenzt (Bericht Über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien (Kosovo) des AA von 29.11.2007). Angesichts dieser allgemeinen Situation sei davon auszugehen, dass im Fall einer Person, die muitimorbid erkrankt sei, eine ausreichende medizinische Behandlungsmöglichkeit im Kosovo nicht gegeben sei. Auch wenn dort die Erkrankungen jeweils für sich gesehen behandelbar seien und diese Behandlungsmöglichkeiten für den Patienten auch tatsächlich zugänglich sein sollten, sei jedenfalls angesichts der Vielzahl und Schwere der Erkrankungen sowie aufgrund der benötigten Medikamente davon auszugehen, dass diese Patienten einer komplexen, aufeinander abgestimmten ärztlichen Behandlung bedürften, die die gegenwärtigen Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo übersteigen würden.

Hinzu kommt, dass der Antragsteller nicht ansatzweise in der Lage wäre, die ihre dringend verordnete Medikation bei einer Rückkehr in die Republik Kosovo finanzieren zu können.

Eine 28 Stück-Packung Ramipril 2,5 mg kostet dort 6 Euro, eine 30-Stück-Packung Mirtazapin 45 mg 23 Euro, eine 30-Stück-Packung Simvastatin 40 mg 9 Euro, eine 30-Stück-Packung Bisoprolol 5 mg 4 Euro, eine 30-er-Packung Ass 100 1,80 Euro, Nitrolingual 7,50 Euro.

Haloperidol und Metamizol befinden sich auf der sogenannten "Essential Drug List (EDL) und sind gegen eine geringe Zuzahlung in Höhe von 0,50 bis 2,50 Euro erhältlich. Insulin in verschiedenen Darreichungsformen wird ebenfalls im Kosovo kostenlos an chronisch kranke Diabetiker ausgegeben.

Die Medikamente Zopiclon 7,5 mg, Cymbalta 30 mg, Tamsolosin 0,4 mg sowie Promethazin sind im Kosovo dagegen nicht erhältlich. Diese können zwar über lokale Apotheken aus dem westlichen Ausland bestellt werden, dies allerdings nur zum vollen Marktpreis, wobei sich laut Auskunft gängiger Internetapotheken folgende Kosten ergeben würden:

Zopiclon 7,5 mg würde als 20-Stück-Packung 14,18 Euro kosten, Cymbalta 30 mg (28-Stück-Packung) 74,14 Euro, Tamsolosin 0,4 mg (20-Stück-Packung) 11,32 Euro und eine 100-Stück-Packung Promethazin 23,28 Euro, wobei zu diesen Beträgen jeweils noch die entsprechenden Versand- und Portokosten hinzuzurechnen wären.

Rechnet man die Preise auf eine Tagesdosis um, würden sich mindestens Medikamentenzuzahlungskosten in Höhe von über 200 Euro pro Monat für den Antragsteller ergeben, wobei hier zu beachten ist, dass er dauerhaft erwerbsunfähig ist und eine Betreuung seiner Tochter ... benötigt, da er nicht einmal in der Lage ist, sein Alltagsleben allein bewältigen zu können, so dass er auf die im Kosovo ausgezahlte Sozialhilfe angewiesen wäre. Diese beträgt jedoch maximal im Falle einer Großfamilie 80 Euro und im Falle einer Einzelperson 40 Euro. Die Sozialhilfe ist so bemessen, dass hiermit auch ein Überleben nur auf äußerst bescheidenem Niveau möglich ist, keinesfalls jedoch die im Falle des Antragstellers monatlich anfallenden Medikamentenzuzahlungskosten in Höhe von mindestens 200 Euro, wobei zu diesen Kosten weitere Kosten für Laboruntersuchungen, EKGs, Fahrten zu Ärzten und Krankenhäusern, Teststreifen für Diabetiker etc., hinzukommen würden, so dass abschließend festzustellen ist, dass der Antragsteller nicht ansatzweise in der Lage wäre, diese Kosten tragen zu können, wobei ein Abbruch seiner Behandlung für ihn mit einer akuten Lebensgefahr verbunden wäre.

Erschwerend kommt in seinem Fall noch hinzu, dass er als 100 % schwerbehinderte Person, die einer persönlichen Betreuung bedarf, nicht einmal in der Lage wäre, sich überhaupt um eine medizinische Behandlung im Heimatland kümmern zu können, so dass er bei einer Rückkehr in die Republik Kosovo zu einem Dahinvegetieren verurteilt wäre, weshalb bei ihm ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des AufenthG festzustellen war. [...]