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OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.06.2011 - 2 M 65/11 - asyl.net: M18922
https://www.asyl.net/rsdb/M18922
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Abschiebung zum Schutz des Vater-Kind-Verhältnisses (hier deutsches Kind). Eine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem minderjährigen Kind ist auch dann möglich, wenn der Vater mit seinem Kind nicht in einer häuslichen Gemeinschaft lebt; dies gilt insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des Umgangsrechts und der Umgangsverpflichtung eines Vaters mit seinem Kind.

Schlagwörter: Duldung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Eltern-Kind-Verhältnis, deutsches Kind, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, familiäre Lebensgemeinschaft, Umgangsrecht, Schutz von Ehe und Familie, Kindeswohl, Ausweisung, unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Geldstrafe,
Normen: VwGO § 123, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antregstellers hat Erfolg.

Aus den von der Beschwerde dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht den Antrag nach § 123 VwGO, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung seine Abschiebung vorläufig zu untersagen, zu Unrecht abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung mit der fehlenden Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs begründet, weil der nach erfolglos durchgeführtem Asylverfahren ausreisepflichtige Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung geltend machen könne. Der Umstand, Vater seines am ... 2008 geborenen deutschen Sohnes zu sein, reiche dafür nicht aus, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe, seine Elternfunktion tatsächlich wahrzunehmen. Es dränge sich der Verdacht auf, er wolle "seinen Sohn nur benutzen, um seinen Aufenthalt im Bundesgebiet weiter in die Länge zu ziehen". Die Beschwerde wendet demgegenüber ein, es bestehe zumindest seit dem Spätherbst des Jahres 2010 eine gewachsene Beziehung des Antragstellers zu seinem Sohn ...

Vorläufiger Rechtsschutz nach § 123 VwGO ist dann zu gewähren, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds glaubhaft (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) gemacht ist. Dabei hat das Gericht bei der allein möglichen summarischen Prüfung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 27.08.2010, - 2 BvR 130/10 -, m.w.N., nach juris) darf im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition umso weniger zurückgestellt werden, je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.

Gemessen daran geht der Senat entgegen dem Verwaltungsgericht und nach derzeitiger Aktenlage davon aus, dass der Antragsteller voraussichtlich einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach 1809 Abs. 2 Satz 1 AufenthG besitzt. Seine Abschiebung dürfte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus rechtlichen Gründen unmöglich sein, weil bei einer Abschiebung die familiären Bindungen des Antragstellers an seinen im Bundesgebiet lebenden deutschen Sohn entgegen der in Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG enthaltenen Grundsetznorm nicht angemessen berücksichtigt werden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschlüsse v. 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682, u. v. 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122, m.w.N.) gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bedingungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechte aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung, aber den Aufenthalt seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Das von ... am ... 2008 geborene Kind ... ist deutscher Staatsangehöriger (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StAG). Nach dem mit dem In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes vom 16.12.1997 (BGBl I 2942) geltenden Kindschaftsrecht gilt es als Kind des Antragstellers, da er die Vaterschaft über das minderjährige Kind durch die am 02.10.2008 beurkundete Erklärung anerkannt und die Mutter dem zugestimmt hat.

Allerdings reicht die Vaterschaft allein für einen Grundrechtsschutz nach Art. 6 GG nicht aus. Vielmehr ist. weiter erforderlich, dass der Vater und sein minderjähriges Kind in einer tatsächlichen familiären Lebensgemeinschaft zusammenleben. Eine familiäre Lebensgemeinschaft ist in der Regel durch eine gemeinsame Lebensführung in der Form der Beistandsgemeinschaft gekennzeichnet, in der den Familienangehörigen dauernde Hilfe und Unterstimmung zuteil wird. In Bezug auf die in der Familie lebenden minderjährigen und heranwachsenden Kinder hat die Familie überdies die Funktion einer Erziehungsgemeinschaft, die von der elterlichen Verantwortung für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes geprägt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.12.1997 - BVerwG 1 C 19.96 -, BVerwGE 106, 13). Sie ist in der Regel anzunehmen, wenn der Vater mit seinem minderjährigen Kind dauerhaft in einer gemeinsamen Wohnung lebt. Eine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem minderjährigen Kind ist aber auch dann möglich, wenn der Vater mit seinem Kind nicht in einer häuslichen Gemeinschaft lebt. Dies gilt insbesondere mit Rücksicht auf die mit dem In-Kraft-Treten des Kindschaftsreehtsreformgesetzes in §§ 1626 Abs. 3, 1684 Abs. 1 BGB zum Ausdruck gekommenen Bedeutung des Umgangsrechts und der Umgangsverpflichtung eines Vaters mit seinem Kind (vgl. - 2 BvR 231/00 -, NVwZ 2002, 849). Maßgeblich ist dann, ob zwischen dem Ausländer und seinem Kind aufgrund des gepflegten persönlichen Umgangs ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht, das von der nach außen manifestierten Verantwortung für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes geprägt ist (vgl. st. Rspr. d. Senats, Beschl. v. 25.08.2006 - 2 M 228/06 -, m.w.N., nach juris). Eine verantwortungsvoll gelebte und dem Schutzzweck des Art 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Beziehung lässt sich nicht nur quantitativ etwa nach Datum und Uhrzeit des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen; die Entwicklung eines Kindes wird vielmehr auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.01.2002, a.a.O.). Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 23.01.2006 (- 2 BvR 1935/05 -, nach juris) nochmals betont, dass maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen sei, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit bestehe, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei; dabei sei zu berücksichtigen, dass bei einer Vater-Kind-Beziehung der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich werde, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben könne. Die Voraussetzungen einer sozial-familiären Beziehung im dargestellten Sinn - verbunden mit entsprechenden Betreuungsleistungen - sind in einer den Anforderungen des einstweiligen Anordnungsverfahrens genügenden Weise durch die eidesstattliche Versicherung der Kindesmutter vom 06.04.2011 glaubhaft gemacht. [...]

Dem Anordnungsanspruch steht nicht entgegen, dass mit Hilfe einer Duldung die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden kann, während der Nachzug von Familienangehörigen in der Regel dauerhaft besteht. Der Aussetzung der Abschiebung (Duldung) kommt nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu (vgl. Beschl. d. Senats v. 25.08.2006, a.a.O., m.w.N.). Die Frage, ob gegebenenfalls auch eine längerfristige Trennung von Familienangehörigen im Hinblick auf Art. 6 GG zulässig ist, ist daher grundsätzlich im Verfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nachzugehen, das wegen § 6 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der Regel nicht vom Inland aus betrieben werden kann (vgl. Funke-Kaiser In: GK-AufenthG, II § 60a RdNr. 87). Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil - wie hier - das Kind deutscher Staatsangehöriger und ihm wegen der Beziehungen zu seiner deutschen Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG, 23.01.2006, a.a.O.). Dabei ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange der Eltern und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, 23.01.2006 a.a.O., BVerwG, Urt. v. 20.02.2003, - 1 C 13/02 - BVerwGE 117, 380). Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn - wie hier - ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, dessen Entwicklung schnell voranschreitet und das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.2006, a.a.O.; Beschl. v. 09.01.2009, - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387). Anders als bei älteren Kindern stehen jüngeren Kindern keine Möglichkeiten offen, den Kontakt zu der Bezugsperson anderweitig, etwa brieflich oder telefonisch, weiter aufrecht zu erhalten, so dass bei jüngeren Kindern - wie beim Sohn des Antragstellers - selbst eine verhältnismäßig kurze Zeit der Trennung mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schon unzumutbar lang sein kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, nach juris). Es bestehen weiter auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe dem Interesse des Antragstellers und seines Sohnes am Verbleib des Antragstellers im Inland entgegenstehen. Allerdings bewahrt die Existenz eines deutschen Kindes den ausländischen Elternteil unter Bezugnahme auf Art. 6 GG nicht in jedem Fall vor einer Ausweisung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.8.2000 - 2 BvR 1363/00 -, zitiert nach juris). Dies gilt bei Ausweisungsgründen wegen erheblicher Straffälligkeit vor allem für sicherheitsrechtliche Belange, weil die Pflicht des Staates, seine Bürger vor Gewalt-, Vermögens- oder Betäubungsmitteldelikten zu schützen, gleichfalls verfassungsrechtlichen Rang besitzt und in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG wurzelt. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an einer wenigstens vorübergehenden Ausreise eines Ausländers, der während seines Aufenthalts in Deutschland in erheblichem Umfang straffällig geworden und bei dem zu befürchten ist, dass er weitere Straftaten begehen wird (vgl. dazu etwa BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006, a.a.O.). Dem Senat liegen derzeit keine Erkenntnisse dafür vor, dass hier eine solche Situation wegen der vom Antragsteller bei seiner Einreise in die Bundesrepublik begangenen Straftat vorliegt. Auch wenn in diesem Zusammenhang der Antragsteller vom Amtsgericht Passau am 27.02.2008 wegen unerlaubter Einreise In Tateinheit mit unerlaubten Aufenthalt und des Missbrauchs von Ausweispapieren zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5 € verurteilt worden ist, dürfte hier angesichts des aktuellen Verhaltens des Antragstellers, insbesondere der Wahrnehmung des Umgangsrechts, mit seinem Sohn, kein erhebliches öffentliches Interesse an einer Ausreise des Antragstellers bestehen, das seine familiären Interessen überwiegt.

Nach alledem spricht derzeit Überwiegendes für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs. Sollte die Antragsgegnerin in der Zukunft über Erkenntnisse verfügen, die eine andere Einschätzung rechtfertigen, steht es ihr frei, in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO ein Abänderungsverfahren anzustrengen. [...]