VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 09.08.2011 - 13a ZB 11.30007 - asyl.net: M18924
https://www.asyl.net/rsdb/M18924
Leitsatz:

Ablehnung eines Berufungszulassungsantrags des BAMF gegen Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage in Afghanistan (Rückkehrer ohne Schul- und Berufsausbildung, der sich in Kabul nicht auskennt und dort auch keine Verwandte hat).

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Afghanistan, Abschiebungsverbot, Versorgungslage, Grundsätzliche Bedeutung, richterliche Überzeugungsgewissheit, Sperrwirkung, Beweiswürdigung, Prognose, Sicherheitslage, extreme Gefahrenlage, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, besonders schutzbedürftig,
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

Auf die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts kann die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht gestützt werden. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (siehe BVerwG vom 8.2.2011 NVwZ-RR 2011, 382) regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Anhaltspunkte für den Ausnahmefall eines Verfahrensfehlers - objektive Willkürlichkeit der Beweiswürdigung - sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, die Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwirkung im Wege verfassungskonformer Auslegung und Anwendung setze voraus, dass der Kläger im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwerster Verletzung ausgeliefert würde und diese Gefahren alsbald nach seiner Rückkehr und landesweit drohen würden (UA S. 8). Für die Prognoseentscheidung komme es im Wesentlichen darauf an, wie sich die Sicherheitslage in Afghanistan darstelle. Erforderlich sei eine Gesamtschau sämtlicher Gefahren. Damit hat es sich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 14.11.2007 Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 55) gestützt. In jüngerer Zeit hat das Bundesverwaltungsgericht diese Auffassung nochmals bestätigt (BVerwG vom 29.6.2010 NVwZ 2011, 48). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Verwaltungsgericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger aufgrund seiner individuellen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden droht.

Zum Einwand der Beklagten, das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht mit der Einlassung des Klägers begnügt, ohne dem weiter nachzugehen, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen darf, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG vom 8,2.2011 a.a.O.). Im Hinblick auf die - verfahrensfehlerfrei gewonnene - zukunftsbezogene Prognose selbst kann ein "voller Beweis" nicht erbracht werden. Insoweit reicht - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG im Regelfall die beachtliche - und bei verfassungskonformer Anwendung der Vorschriften zur Durchbrechung der Sperrwirkung des Satzes 3 eine erhöhte -Wahrscheinlichkeit des angenommenen zukünftigen Geschehensverlaufs aus. Hiervon ist das Verwaltungsgericht ausgegangen. Es hat unter Zugrundelegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine extreme allgemeine Gefahrenlage wegen der schlechten Versorgungssituation für bestimmte Personengruppen angenommen und insoweit eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht. Damit hat es in wertender Gesamtschau unter Berücksichtigung der individuellen konkreten Umstände des Einzelfalls (vgl. UA S. 16 f.) das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage und damit Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht. Zwar könne nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden erleiden müsste, jedoch sei dies im Ausnahmefall bei besonders schutzbedürftigen Rückkehrern anzunehmen. Dies sei beim Kläger der Fall, weil er keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt habe, mit den örtlichen Gegebenheiten in Kabul nicht vertraut sei und keine Verwandtschaft in Kabul habe. Er habe kein Vermögen und könne nicht auf die Unterstützung durch die Familie seines Schwagers bauen. Seine Grundstücke in der Provinz Kunar seien für ihn derzeit unerreichbar und würden nichts abwerfen. Hinsichtlich dieser tatsächlichen Grundlagen hat sich das Verwaltungsgericht nicht mit der Möglichkeit begnügt, dass es sich so verhalten könnte, sondern ist auf der Grundlage des Sachvortrags des Klägers positiv davon ausgegangen. Lediglich missverständlich erscheint in diesem Zusammenhang die Aussage des Verwaltungsgerichts "Dies ist aufgrund der Erkenntnisse in anderen Verfahren glaubhaft." (UA S. 16). Der Begründung lässt sich deutlich entnehmen, dass das Verwaltungsgericht nicht bloße "Glaubhaftmachung" genügen lässt, sondern von der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit (UA S. 9) ausgeht. Zu diesem Zweck hat das Verwaltungsgericht die Aussagen des Klägers gewürdigt und auf Widersprüchlichkeiten überprüft (UA S. 17). In einem Berufungsverfahren könnten damit insoweit keine verallgemeinerungsfähigen, über den konkreten Einzelfall hinaus bedeutsamen Erkenntnisse gewonnen werden. Im Übrigen hängt es wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung, wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen (BVerwG vom 29.6.2010 NVwZ 2011, 48).

Diesem Ergebnis stehen auch die Zulassungsentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 12.8.2010 BVerwG 10 B 18.10 u.a. <juris> und vom 23.6.2010 BVerwG 10 B 26.09 u.a. <juris>) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht entgegen. Die Zulassung der Revision wegen einer Rechts- oder Tatsachenfrage führt nicht zwangsläufig zur Zulassung von einem ähnlich gelagerten Fall, weil immer auf die Klärungsbedürftigkeit in der konkreten Streitsache abzustellen ist.

Die Beklagte hält weiter für klärungsbedürftig, ob bereits der Umstand fehlender Unterstützung durch Familie oder Bekannte für jeden aus Europa Kommenden ohne besondere berufliche Qualifikation, ohne nennenswerte Ersparnisse und ohne Grundbesitz zu einer alsbald drohenden Extremgefahr führe. Die aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage sei unterschiedlich. Die Frage sei jedenfalls dann zu verneinen, wenn der Abzuschiebende gesund und im arbeitsfähigen Alter sei sowie sich selbst versorgen könne oder bei Abschiebung nach Kabul dort den Rückhalt der Großfamilie besitze oder wenn finanzielle Unterstützung von Angehörigen aus dem Ausland möglich sei.

Entgegen dieser Auffassung hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan für den Kläger bejaht. Es hat - wie bereits ausgeführt - unter Zugrundelegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur entsprechenden Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG vom 19.11.1996 BVerwGE 102, 249/258) das Bestehen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage für den Kläger hinsichtlich der allgemeinen Versorgungslage angenommen. Auch wenn grundsätzlich für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer unter bestimmten Voraussetzungen eine Rückkehrmöglichkeit bestehe, sei im Ausnahmefall des Klägers nach den dargestellten Besonderheiten eine extreme Gefahrenlage im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen (UA S. 15 ff.).

Damit hat das Verwaltungsgericht die von der Beklagten aufgeworfene Frage grundsätzlich ebenso wie diese beantwortet, aber in wertender Gesamtschau unter Berücksichtigung aller individuellen konkreten Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG vom 8.4.2002 Buchholz 402.240 § 53 Nr. 59 AuslG) davon abweichend das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage für den Kläger bejaht und ihm Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugesprochen. Auf die Klärung der von der Beklagten weiter aufgeworfenen Frage in einem Berufungsverfahren käme es deshalb ebenfalls nicht an. [...]