BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 16.09.2011 - 5504444-150 - asyl.net: M19002
https://www.asyl.net/rsdb/M19002
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Angehörigen der Minderheit der Roma, der im Kosovo keine Angehörigen oder sozialen Bindungen hat und daher seine Existenz dort nicht sichern könnte. Wie erst kürzlich von der OSZE festgestellt, sind die im Lagebericht des Auswärtigen Amtes angeführten Strategien und Aktionspläne für die Integration der Roma bzw. für die Reintegration von Rückkehrern bisher aus finanziellen Gründen nur unzureichend umgesetzt. Das Projekt URA II bietet zwar einige Hilfestellungen für Rückkehrer und Abgeschobene, kann aber die strukturellen Probleme nicht ausgleichen. - Dem Antragsteller droht zudem, im Falle einer Rückkehr schwer psychisch zu erkranken.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Kosovo, Roma, offensichtlich unbegründet, Diskriminierung, Existenzgrundlage, Rückkehrprojekt URA 2, psychische Erkrankung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 30 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4c
Auszüge:

[...]

Ferner soll von einer Abschiebung gemäß § 60 Abs.- 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dem Ausländer eine erhebliche, individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Eine auf die Person des Antragstellers zu beziehende Individuelle und konkrete Gefahrenlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lässt sich feststellen.

Der Antragsteller hat glaubhaft Ausführungen zu einer individuellen Gefahrenlage im Falle einer Rückkehr gemacht. Demnach muss unter Berücksichtigung des individuellen Vortrags des Antragstellers bei Gesamtbetrachtung für ihn unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er Jahrzehnte lang in Deutschland gelebt hat, festgestellt werden, dass eine zwangsweise Rückkehr in den Kosovo für ihn eine unzumutbare Härte, wenn nicht gar eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Für den Antragsteller, der im Kosovo ohne jegliche familiäre Unterstützung leben müsste und keinerlei soziale Bindungen dort hat, gibt es nämlich kaum Möglichkeiten zur Existenzsicherung. Wie erst kürzlich (Mai 2011) von der OSZE festgestellt wurde, sind die im Lagebericht angeführten Strategien und Aktionspläne für die Integration der Roma bzw. für die Reintegration von Rückkehrern bisher nur unzureichend umgesetzt. Nachdem es bereits in den Haushalten der Ministerien und Gemeinden 2010 kein Budget für deren Umsetzung gab, ist dies auch in den Haushalten für 2011 der Fall. Das Projekt URA II in Prishtina bietet zwar einige Hilfestellungen für Rückkehrer und Abgeschobene, kann aber die strukturellen Probleme nicht ausgleichen. So ist keine regelmäßige Hilfe zum Lebensunterhalt vorgesehen und die Beschaffung von Wohnraum lebt vor der Garantie der Miete für die Laufzeit der Unterstützung. Für in den Kosovo abgeschobene Roma sind daher häufig in Serbien lebende Verwandte die naheliegendste Anlaufstelle. Selbst wenn sich der Antragsteller in Serbien noch registrieren lassen könnte, hat er dort keine Verwandten. Er wäre völlig auf sich allein gestellt. Insbesondere die Sprachbarriere wäre für ihn ein großes Hindernis, im Heimatland eine Arbeit zu finden und für sich zu sorgen.

Zudem droht der Antragsteller auch im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland schwer psychisch zu erkranken. Der Antragsteller ist bereits auch als Folge seiner schlimmen Kindheitserfahrungen und der damit verbundenen ehemaligen Drogensucht psychisch sehr labil und angeschlagen und wegen Depressionen und Selbstmordgedanken stationär behandelt worden. Es kann nicht ausgeschlossen werden. dass die aussichtslose Lage im Falle einer Rückkehr in den Kosovo den Antragsteller psychisch in eine derart instabile Lage versetzen wird, dass er schon aus diesem Grunde nicht in der Lage sein wird, für sich seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Antragsteller hat in der Anhörung glaubhaft gemacht, seine Drogensucht überwunden zu haben. Seinen Lebensunterhalt hat er - wenn auch illegal aus Angst vor Abschiebung - im Gastronomiegewerbe und nicht mit Drogenhandel in der Bundesrepublik Deutschland betrieben. Im Falle einer Rückkehr in den Kosovo hingegen bestünde die große Gefahr, aufgrund der vielen aufkommenden Probleme und Existenzängste, dass der Antragsteller wieder rückfällig werden würde. Eine konkrete Gefahr für seine Gesundheit ist folglich nicht auszuschließen.

Im Übrigen leidet der Antragsteller unter Verfolgungsangst. Die meisten abgeschobenen Roma haben eine solche ausgeprägte Verfolgungsangst. Ob sie auf eigenen Gefahren oder auf Berichten von Verwandten beruhen, gehen sie von einer hohen Gefährdung durch die Mehrheitsbevölkerung aus. Die Angst vor der Verfolgung führt in vielen Fällen dazu, dass die Betroffenen es nicht wagen, in ihren Heimatort zurückzukehren oder den Kosovo möglicherweise wieder verlassen. In beiden Fällen führt dies dann - und das wäre auch hier zu erwarten - aber zum Ausschluss vor Sozialleistungen. Erneut würde dies den Antragsteller in eine ausweglose Lage bringen.

Im Übrigen ist nicht zu vergessen, dass es gerade bei Personen, denen eine Zusammenarbeit mit den Serben nachgesagt wird, immer noch zu Gefährdungen durch ehemalige UCK-Mitglieder oder Nachbarn kommt. Mehrfach wurde von Rückkehrern auch über Polizeigewalt und Diskriminierung durch die Polizei berichtet. Aus Angst vor Verfolgung werden viele dieser Fälle nicht der Polizei gemeldet. Selbst wenn der Antragsteller selbst noch ein kleines Kind war, als er sein Heimatland verlassen hat, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass er Schwierigkeiten wegen seines Onkels bekommen könnte, sei es nur, dass er diskriminiert würde und man ihm keine Arbeit gibt. [...]