BlueSky

BAMF

Merkliste
Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 07.09.2011 - 5462465-425 - asyl.net: M19018
https://www.asyl.net/rsdb/M19018
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (PTBS, Depression). Nach einem Bericht der Deutschen Botschaft Baku vom 25.11.2009 befindet sich das Gesundheitssystem Aserbaidschans trotz wirtschaftlichen Aufschwungs nach wie vor in einem völlig ungenügenden Zustand. Es existiert kein funktionierendes staatliches Krankenversicherungssystem mehr; eine kostenlose medizinische Versorgung gibt es nur noch formell. Private medizinische Versorgung kann sich der Großteil der Bevölkerung nicht oder nur teilweise leisten.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Aserbaidschan, Posttraumatische Belastungsstörung, psychische Erkrankung, Retraumatisierung, Depression, Krankenversicherung, Diabetes mellitus, Tuberkulose
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Dem Antrag wird insofern entsprochen, als festgestellt wird, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich die Republik Aserbaidschan vorliegen. [...]

Soweit dem Antragsteller durch 49-seitiges psychologisch-psychotraumatologisches Fachgutachten der ... vom 06.12.2010 bescheinigt wird, an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt zu sein, ist vorab festzustellen, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG auch dann vorliegen kann, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Antragsteller bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die drohende Gefahr kann in diesem Fall auch durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt sein. Der Begriff der "Gefahr" in § 60 Abs. 7 Satz. 1 AufenthG ist hinsichtlich seines Entstehungsgrundes nicht einschränkend auszulegen, und es ist deshalb unerheblich, ob sich die Gefahr aus einem Eingriff, einem störenden Verhalten oder aus einem Zusammenwirken mit anderen, auch anlagebedingten Umständen ergibt (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383).

Die Gefahr ist "erheblich" i.S. von § 60 Abs. 7 Salz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn der Asylbewerber alsbald nach seiner Rückkehr in der Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, a.a.O.).

Eine gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG zu berücksichtigende zielstaatsbezogene Gefahr kann sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer die benötigte medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen tatsächlich nicht zugänglich ist (BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, EZAR 043 Nr. 56, 1 C 1.02 und vom 25.11.1997, BVerwGE 105. 383, 9 C 58.96 m.w.N.).

Der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes München vom 13.12.2000 (19 ZB 00.31925), wonach eine fehlende finanzielle Liquidität kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot darstelle, ist nicht zu folgen, da es nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unerheblich ist, welche Ursache der im Herkunftstand bestehenden Gefahr zu Grunde liegt (BVerwG. Urteil vom 25.11.1997 a.a.O.).

Die übrigen Voraussetzungen liegen im Falle des Antragstellers vor.

Bezüglich der medizinischen Versorgungslage und des Gesundheitssystems wird in diesem Zusammenhang Bezug genommen auf den Botschaftsbericht der Deutschen Botschaft Baku vom 25.11.2009, wonach sich das Gesundheitssystem Aserbaidschans trotz wirtschaftlichen Aufschwungs in den letzten Jahren aufgrund des anhaltenden Ölbooms nach wie vor in einem völlig ungenügenden Zustand befindet.

In Aserbaidschan existiert kein funktionierendes staatliches Krankenversicherungssystem mehr. Eine kostenlose medizinische Versorgung gibt es nur noch formell. Lediglich für die Erkrankungen Diabetes und TBC werden durch gegründete Stiftungen und das durch KfW finanzierte TBC-Kontrollprogramm Medikamente/Spritzen kostenlos verabreicht. Diese machen jedoch nur zwischen 10 - 40 % der Gesamtkosten der Behandlung aus, die der Patient weiterhin selbst zu tragen hat.

Mittellose Patienten werden zwar im Notfall in staatlichen Krankenhäusern aufgenommen und minimal erstversorgt, jedoch nach maximal 2-3 Tagen "auf eigenen Wunsch" entlassen und an einen zuständigen Arzt verwiesen, der lediglich notwendige Medikamente verabreichen und verschreiben kann. Krankenhäuser befinden sich in erster Linie in Baku. Die hygienischen Verhältnisse in den staatlichen Einrichtungen sind teilweise unzureichend. Die gesundheitliche Versorgung außerhalb der größeren Städte beschränkt sich in der Regel auf eine ambulante Versorgung.

Neben der staatlichen Gesundheitsversorgung bildet sich ein breiter privater medizinischer Sektor heraus, der gegen Barzahlung medizinische Leistungen auf annähernd europäischem Standard bietet und der mit privaten Krankenversicherungen kooperiert. Der Großteil der Bevölkerung kann sich eine solche medizinische Versorgung jedoch nicht oder nur teilweise leisten.

Speziell psychische Erkrankungen (wobei PTBS in Aserbaidschan noch wenig thematisiert ist, aufgrund der Kriegsereignisse in den Jahren 1989 bis 1990 aber durchaus vorhanden ist) werden im Republik-Krankenhaus (Spezialabteilung 25 km außerhalb der Stadt) und weiteren zwei Kliniken in Baku von Fachärzten behandelt. Spezielle Heime für psychisch und physisch gestörte Patienten befinden sich ebenfalls weit außerhalb der Stadt und unter äußerst unzureichenden räumlichen und personellen Zuständen. Separate Beratungsstellen gibt es vereinzelt privat, da es bisher nicht "landesüblich" und somit tabu ist, solche Einrichtungen überhaupt zu nutzen. Eine psychotherapeutische Behandlung kostet um die 17 bis 20 Euro pro Sitzung. Klinische Rehabilitationsmaßnahmen sind pro Tag ebenfalls mit 20 Euro zu berücksichtigen.

Obigen Ausführungen lässt sich somit entnehmen, das der Antragsteller die ihm attestierte posttraumatische Belastungsstörung in Aserbaidschan in vollem Umfang selbst finanzieren müsste, wozu der mittellose Antragsteller, der erklärte, keinerlei Angehörige im Heimatland mehr zu haben, nicht in der Lage wäre. Da ein Abbruch der Behandlung jedoch gem. des vorgelegten Gutachtens der ... zu einer sofortigen Dekompensation und einem Dahinvegetieren des Antragstellers führen würde, somit zu einer wesentlichen und gravierenden Gesundheitsverschlechterung, war bei ihm somit ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 des AufenthG festzustellen. [...]