VG Darmstadt

Merkliste
Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 14.09.2011 - 4 K 625/11.DA.A - asyl.net: M19020
https://www.asyl.net/rsdb/M19020
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG wegen Gefahr willkürlicher Inhaftierung und Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bei Rückkehr nach Syrien. Dass der Kläger wohl illegal aus Syrien ausgereist ist, dürfte die Verfolgungsgefahr zusätzlich erhöhen.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Syrien, Rückkehrgefährdung, Inhaftierung, Folter, Willkür, Kurden, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Deutsch-Syrisches Rückübernahmeabkommen, subsidiärer Schutz,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, GR-Charta Art. 19 Abs. 2, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Soweit der Kläger seinen zunächst u.a. auch noch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten Klageantrag nunmehr auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG beschränkt hat, liegt darin gleichzeitig die Rücknahme der Klage im Übrigen. In diesem Umfang war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Die den Kläger treffende Kostentragungspflicht ergibt sich insoweit aus § 155 Abs. 2 VwGO. [...]

Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta als verbindlichen Teil des primären Unionsrechts zu berücksichtigen und sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen zu orientieren. Dieser stellt auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") ab, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51). [...]

Unter Anwendung dieses Maßstabs hat der Kläger Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG, denn es besteht unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Syrien die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Abschiebung nach Syrien Maßnahmen i.S.v. § 60 Abs. 2 AufenthG ausgesetzt sein wird.

Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 werden Personen, die im Rahmen des am 3. Januar 2009 in Kraft getretenen bilateralen Rückführungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Syrien vom 25. Juli 2008 (BGBl. II 2008, S. 811. 2009, S. 107) nach Syrien zurückgeführt werden, bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt. Diese Befragungen können sich über mehrere Stunden hinziehen. In manchen Fällen wird der Betroffene für die folgenden Tage noch einmal zum Verhör einbestellt. In Einzelfällen werden Personen für die Dauer einer Identitätsüberprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten. Dies dauert in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Der Lagebericht benennt drei Fälle aus dem Jahr 2009, in denen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekannt geworden sind. Darüber hinaus ist es - wie sich unter anderem auch aus der Antwort der Bundesregierung vom 22. Oktober 2010 auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion DIE LINKE vom 6. September 2010 betreffend die Inhaftierung von abgeschobenen Syrern in Damaskus (BT-Drs. 17/3365) ergibt - offenbar zu weiteren Inhaftierungsfällen gekommen, wie sie ausführlich in den Urteilen des VG Köln vom 11. April 2011 (Az.: 20 K 2727/10.A, Asylmagazin 2011, 195) und vom 21. Juni 2011 (Az.: 20 K 6194/10.A) dargestellt werden. Von lediglich vereinzelten Fällen kann insoweit keine Rede mehr sein. Vielmehr liegen ernstliche Anhaltspunkte dafür vor, dass es zu willkürlichen Verhaftungen zurückkehrender syrischer Staatsangehöriger durch syrische Sicherheitskräfte kommt. Dabei lässt sich weder ein bestimmter Verfolgungsmodus erkennen noch kann ausgeschlossen werden, dass es bereits schon bei kurzzeitigen Inhaftierungen zu Folter kommt. Insoweit sei nur der Fall des Khalid Hamid Hamid genannt, über den KurdWatch berichtet hat. Dieser soll nach seiner Abschiebung aus Deutschland am 13. April 2011 eine Woche lang im Gefängnis der Far Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten und in der Haft gefoltert worden sein (vgl. KurdWatch vom 28. April 2011).

Vor diesem Hintergrund bedarf es nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts nicht des Hinzutretens weiterer Umstände wie etwa exilpolitischer Betätigung, um bei einer Rückkehr aus dem Ausland Maßnahmen i.S.v. § 60 Abs. 2 AufenthG beachtlich wahrscheinlich zu machen (so auch VG Köln in den o.g. Urteilen, VG Gießen, Urt. v. 15. Juni 2011 - 2 K 5573/.Gl.A; VG Stuttgart, Urt. v. 6. Mai 2011 - A 7 K 510/09 -, juris). Dies umso mehr, als sich die Lage in Syrien in den letzten Wochen und Monaten immer mehr verschärft und das Regime offensichtlich gewillt ist, seine Macht mit allen Mitteln zu erhalten. So geht es - wie sich aus den vorliegenden Quellen ergibt - mit unverminderter Brutalität gegen die Protestbewegung vor (SZ v. 12. September 2011, "Al-Arabi besucht Syrien"). Es wird auf Demonstranten geschossen und es werden Wohnviertel unter Beschuss genommen (so bspw. SZ v. 8. August 2011, "Assad greift weitere Städte an."; taz v. 5. August 2011 "Wohnviertel und Moscheen unter Beschuss."). Seit Beginn der Proteste sollen mehr als 10.000 Menschen in den Kerkern des Regimes verschwunden sein (taz v. 18. Juli 2011, "Syriens Regime foltert Gefangene."). Laut Amnesty International werden regierungskritische Häftlinge brutal gefoltert und getötet. So seien seit den ersten Demonstrationen für Reformen im Frühjahr mindestens 88 Menschen in Gefängnissen gestorben. Viele der Getöteten seien zuvor gefoltert, geschlagen und verstümmelt worden. Sämtliche Opfer sollen festgenommen worden sein, weil sie an den Kundgebungen für Reformen in Syrien mitgemacht hätten (taz.de v. 30. August 2011, "Tod hinter Gittern.").

Bereits mit Schreiben vom 28. April 2011 an die Ministerien und Senatsverwaltungen für Inneres der Länder hat das Bundesministerium des Innern darauf hingewiesen, dass es ungeachtet der in jedem Fall gegebenen Schutzmöglichkeiten aus heutiger Sicht ratsam erscheint, vorläufig bis zur Klärung der Verhältnisse in Syrien tatsächlich keine Abschiebungen vorzunehmen.

Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die syrischen Sicherheitskräfte infolge der Lage im Innern zu Einreisekontrollen aus Kapazitätsgründen nicht mehr in der Lage wären, und es ist nicht ersichtlich, wie die "gefahrlose" Einreise anderweitig sichergestellt werden sollte. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang der Umstand, dass eine Übernahme von zurückgeführten Personen unmittelbar nach der Ankunft durch Mitarbeiter der Deutschen Botschaft und eine Begleitung zu den für die Einreise zuständigen Behörden und Sicherheitsdiensten bis auf Weiteres nicht garantiert werden kann, da es seit Mai 2010 Mitarbeitern der Deutschen Botschaft Damaskus nur noch im Rahmen der protokollarischen Betreuung von Delegationen nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch das syrische Außenministerium möglich ist, den Sicherheitsbereich des Flughafens Damaskus zu betreten, und eine Genehmigung anlässlich einer Rückführung zwar mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf möglich ist, von der syrischen Seite aber fallbezogen entschieden wird (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 27. September 2010).

Nach alldem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger im Fall seiner Abschiebung nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine eingehende Befragung durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen hat, verbunden mit der Gefahr willkürlicher Inhaftierung und damit einhergehender Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Dass der Kläger wohl illegal aus Syrien ausgereist ist, was die Gefahr zusätzlich noch erhöhen dürfte (vgl. VG Köln, Urt v. 21. Juni 2011 - 20 K 6194/10.A). sei hier nur am Rande erwähnt. [...]