VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 31.05.2011 - 13a B 10.30186 - asyl.net: M19047
https://www.asyl.net/rsdb/M19047
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage für alleinstehenden, arbeitsfähigen jungen Mann. Es ist zwar zweifellos von einer äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan auszugehen. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird aber darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds in einer aktuellen Untersuchung vom April 2010 bei der Wirtschaftslage durchaus positive Tendenzen sehe. Bis etwa Mitte des Jahrzehnts sei mit einem realen jährlichen Wirtschaftswachstum zwischen 6 und 8 % zu rechnen. Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitsuche führen auch nicht "alsbald" zu einer Extremgefahr. Der Kläger wäre im Fall einer zwangsweisen Rückführung nach Afghanistan in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, extreme Gefahrenlage, Glaubhaftmachung, Kabul, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Versorgungslage, Sicherheitslage, Afghanistan
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Berufung, die sich allein gegen die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG richtet, ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zu Recht hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) seinen dahingehenden Antrag abgelehnt. [...]

Soweit sich der Kläger der Annahme der Beklagten, als alleinstehender junger Mann könne er sich in Kabul ein Existenzminimum sichern und auf die vorhandenen familiären Strukturen zurückgreifen, widersetzt, beruft er sich nicht auf eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, sondern macht allgemeine Gefahren im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG geltend, die auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden können, wenn sie auch durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (BVerwG vom 8.12.1998 BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, wonach es den Innenministern des Bundes und der Länder überlassen bleiben soll, durch humanitäre Abschiebestopp-Erlasse nach § 60a AufenthG oder durch andere Maßnahmen auch solche Ausländer wirksam zu schützen, denen bei einer Abschiebung Allgemeingefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen. Die Verwaltungsgerichte haben diese Aufgaben- und Verantwortungszuweisung durch den parlamentarischen Gesetzgeber zu respektieren (BVerwG vom 12.7.2001, BVerwGE 114, 379). Eine solche Abschiebestopp-Anordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr). Der Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 3. August 2005 (Az. IA2-2086.14-12/Ri), der dementsprechende Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder umsetzt, sieht vor, dass "vorrangig zurückzuführen sind nunmehr auch alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind". Ein Bleiberecht sollen danach Alleinstehende nur erhalten, wenn sie u.a. vor dem 24. Juni 1999 eingereist sind.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. [....]

Nach den Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Kläger als allein stehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Nach sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln ist zwar die Versorgungslage in Afghanistan schlecht. So weist der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 9. Februar 2011 (Lagebericht, S. 28 f.) darauf hin, dass der Staat, einer der ärmsten der Welt, in extremen Maß von Geberunterstützung abhängig sei. Weniger als zwei Drittel der laufenden Ausgaben könnten durch eigene Einnahmen gedeckt werden; der Entwicklungshaushalt sei zu 100 % geberfinanziert. 2010 sei die Ernte zwar etwas niedriger ausgefallen als im Vorjahr, jedoch immer noch deutlich über dem langjährigen Mittel. Von diesen verbesserten Rahmenbedingungen profitierten grundsätzlich auch Rückkehrer. Allerdings führe die verbreitete Armut landesweit vielfach zu Mangelernährung. Problematisch bleibe die Lage der Menschen insbesondere in den ländlichen Gebieten des zentralen Hochlands. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in Städten sei nach wie vor schwierig. Die medizinische Versorgung sei - trotz erkennbarer Verbesserungen - immer noch unzureichend. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 11.8.2010, S. 16 f.) weist darauf hin, dass in Afghanistan, dem zweitärmsten Land der Welt, weiterhin über ein Drittel der Bevölkerung in Armut leben würde. Der Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Unterkünften habe sich aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen insbesondere im Süden und Südosten des Landes massiv verschlechtert. In Kabul habe die Regierung mit der Urbanisierung, insbesondere was die sanitären Bedingungen betreffe, nicht Schritt halten können; die Lage werde zunehmend besorgniserregend. In weiten Teilen Afghanistans sei die Lebensmittelknappheit endemisch. Naturkatastrophen, jahrelange Trockenheit, hohe Lebensmittelpreise und der bewaffnete Konflikt hätten die Versorgungslage weiter verschärft. Die Arbeitslosenquote betrage rund 40 %. Die Zerstörung von Wohnhäusern habe zu Wohnungsknappheit geführt. 46 % der Rückkehrer sehe sich mit Unterkunftsproblemen konfrontiert und 28 % verfügten über kein stabiles Einkommen. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend. Kapazitäten, weitere Rückkehrer aufzunehmen, bestünden nicht.

In seinem Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 7. Oktober 2010 verweist Dr. Mostafa Danesch u.a. darauf, dass 36 % der Afghanen in absoluter Armut leben würden. [...]

Damit ist zweifellos von einer äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan auszugehen. Im Wege einer Gesamtgefahrenschau ist jedoch nicht anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohe oder er alsbald schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte. So wird im Lagebericht (S. 28 f.) darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds in einer aktuellen Untersuchung vom April 2010 bei der Wirtschaftslage bzw. den makroökonomischen Rahmenbedingungen durchaus positive Tendenzen sehe: Bis etwa Mitte des Jahrzehnts sei mit einem realen jährlichen Wirtschaftswachstum zwischen 6 und 8 % zu rechnen. Günstige Witterungsbedingungen hätten - wie bereits erwähnt - in den Jahren 2009 und 2010 durch die wesentlich positivere Erntebilanz zu einer signifikanten Verbesserung der Gesamtversorgungslage im Land geführt. Auch sei zwar die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig. Allerdings bemühe sich das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen "townships" kaum geeignet. Soweit ausgeführt wird, der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich, bedeutet dies andererseits, dass jedenfalls Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind.

Ähnliches ergibt sich aus den anderen Erkenntnismitteln. Die Feststellungen in der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 11. August 2010 (a.a.O.) zu den Unterkunftsproblemen und zum fehlenden stabilen Einkommen führen nicht zur Annahme einer extremen Gefahrenlage in dem beschriebenen Sinn. Für den Hinweis, dass viele Rückkehrer sich am Rande der Stadt Kabul in informellen Siedlungen niedergelassen hätten, wo oft kein Zugang zu Elektrizität, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen gegeben sei, gilt das Gleiche. Hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten geht Danesch in seiner Auskunft vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer, häufig als Tagelöhner, einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist, fänden. In diesen Sektor, meist im Baugewerbe, ströme massiv die große Zahl junger Analphabeten. Ein älterer Mann, der vorher lange im Westen gelebt habe, hätte keine Chance auf einen solchen Arbeitsplatz. Daraus ergibt sich jedoch im Umkehrschluss, dass bei anderen Voraussetzungen eine Beschäftigung möglich ist. Nach Amnesty International (Afghanistan Report 2010) leben Tausende von Vertriebenen in Behelfslagern, wo sie nur begrenzten Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Bildung erhalten. Eine Mindestversorgung ist damit aber gegeben.

Das Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extreme Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, RdNr. 54 zu § 60). Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitsuche führen jedoch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit "alsbald" zu einer Extremgefahr. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist jedoch eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Diese ist nicht ersichtlich (vgl. auch BVerwG vom 29.6.2010 a.a.O.).

Nach alldem ist davon auszugehen, dass der Kläger, ein junger, lediger, gesunder Afghane, der jedenfalls gegenüber Ehefrau und Kindern keine Unterhaltslasten hat, auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort alsbald verhungern würde oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, liegt damit nicht vor. [...]