VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 27.09.2011 - Au 6 K 11.30278 - asyl.net: M19068
https://www.asyl.net/rsdb/M19068
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für unbegleiteten Minderjährigen (Hazara). Ob eine extreme Gefahrenlage hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul vorliegt, kann dahingestellt bleiben, weil der Kläger als Minderjähriger aufgrund seiner individuellen Umstände davon bedroht ist, wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul alsbald nach seiner Rückkehr Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Im Fall der Rückführung nach Kabul ergibt sich eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG jedenfalls für besonders Schutzbedürftige wie alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund besonderer ethnischer oder religiöser Merkmale (wie z. B. Hazara und Hindu) zusätzlicher Diskriminierung unterliegen.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, Hazara, unbegleitete Minderjährige, Griechenland, Kabul, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, besonders schutzbedürftig, Diskriminierung, Existenzgrundlage, allgemeine Gefahr, erhebliche individuelle Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Im Fall des Klägers liegen Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, weil ihm als unbegleiteter Minderjähriger im Falle einer Rückkehr nach Kabul eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben selbst in Kabul droht. [...]

Ob eine extreme allgemeine Gefahrenlage hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul für den Kläger vorliegt, kann dahingestellt bleiben, weil jedenfalls unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe das Gericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass dem Kläger als minderjährigen Jugendlichen aufgrund seiner individuellen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit droht, wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul alsbald nach seiner Rückkehr Opfer der extreme allgemeine Gefahrenlage zu werden. [...]

In der Gesamtschau besonders der aktuellen Auskünfte des Auswärtigen Amtes, des UNHCR und der Schweizer Flüchtlingshilfe ist davon auszugehen, dass die Versorgungslage in Kabul wesentlich davon abhängt, ob sich ein Rückkehrer auf familiäre oder sonstige verwandtschaftliche Strukturen verlassen kann, oder ob er auf sich allein gestellt zurückkehrt. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser seine Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und begegnet den Gefahren umso besser. Trotz der teilweise äußerst schlechten Sicherheits- und Versorgungslage kann daher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Kabul erleiden müsste (so auch VG Ansbach v. 22.3.2006, Az. AN 11 K 06.30055, juris, RdNr. 44; auch OVG Berlin-Brandenburg v. 5.5.2006, Az. 12 B 9.05, juris, RdNrn. 41 ff.; VGH Kassel v. 7.2.2008, Az. 8 UE 1913/06.A, Urteilsabdruck, S. 9-16; BayVGH vom 3.2.2011, Az. 13a B 10.30394, Urteilsabdruck, RdNrn. 34, 36).

Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich daraus eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im Falle einer Rückführung nach Kabul - eine Rückführung an einen anderen Ort scheidet derzeit ohnehin aus (im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9.2.2011, S. 32, wird nur auf Kabul als Abschiebeweg abgestellt) - jedenfalls für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund besonderer ethnischer oder religiöser Merkmale (wie z. B. Hazara und Hindu) zusätzlicher Diskriminierung unterliegen. Für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, die entweder mit den Verhältnissen im Raum Kabul vertraut sind oder dort über familiäre oder soziale Netzwerke verfügen oder ausgeprägte berufsbezogene Fähigkeiten und Kenntnisse haben, ist zumindest die Möglichkeit gegeben, sich eine neue Existenz aufzubauen (so auch Sächs. OVG v. 23.8.2006, Az. A 1 B 58/06, juris, RdNr. 30; VG Schleswig-Holstein v. 15.3.2007, Az. 12 A 158/05, Urteilsabdruck S. 10, 18 f., beide zur Zumutbarkeit einer Tagelöhnertätigkeit im Baugewerbe; offener BayVGH vom 3.2.2011, Az. 13a B 10.30394, Urteilsabdruck, RdNr. 37 ohne Rücksicht auf besondere familiäre Kontakte oder persönliche Fähigkeiten). Selbst unter Berücksichtigung der besonderen Schwierigkeiten gerade beim Start in einer vom Krieg geprägten Stadt und der besonderen ethnischen und politischen Situation Kabuls ist dennoch für solche Rückkehrer nicht generell eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG anzunehmen.

Im Fall des Klägers ergibt sich daraus eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.

Als Minderjähriger zählt er zu dem besonders schutzwürdigen Personenkreis, der einer existentiellen Lebensgefahr ausgesetzt wäre.

Dabei handelt es sich um eine zukunftsbezogene Prognose, für die kein "voller" Beweis erbracht werden muss. Insoweit reicht im Regelfall eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des angenommenen zukünftigen Geschehensverlaufs aus. Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern sich in tastsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der Zweifel Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. dazu BayVGH vom 13.5.2011, Az. 13a ZB 10.30344).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Gericht der Überzeugung, dass der Kläger bei seiner Ankunft nicht mehr auf die erforderlichen familiären und sozialen Strukturen zurückgreifen kann. Sein Vater ist bereits verstorben, seine Mutter mit seinen Geschwistern hat er auf der Reise im Grenzgebiet Türkei/Griechenland verloren. Zu ihnen hat er auch keinen Kontakt mehr. Er hat des Weiteren keine Verwandtschaft mehr in Afghanistan. Diese ist in den Zeiten des Krieges ebenfalls geflohen. So hat er auch angegeben, dass seine Mutter mit den Kindern zu seiner Verwandtschaft bzw. Bekannten in den Iran gegangen sei. Dies deckt sich mit der Aussage, dass alle Bekannten aus Afghanistan weggegangen seien. Ohne familiäre Unterstützung ist davon auszugehen, dass er aufgrund der in Kabul bestehenden schwierigen Arbeitsmarktsituation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage wäre, nach der Rückkehr eine Arbeitsstelle zu finden und selbst für seinen Unterhalt zu sorgen. Er war nach eigenen, glaubhaften Angaben nur für kurze Zeit auf der Schule und hat keinen Beruf erlernt. In Afghanistan hat er als Schäfer, im Iran in einer Fabrik gearbeitet. Er hat sich des Weiteren noch nie in Kabul aufgehalten. Er ist somit mit den örtlichen Gegebenheiten Kabuls nicht vertraut. Er hat auch keine finanziellen Rücklagen, mit denen er sich zumindest die erste Zeit "über Wasser halten" könnte. Als ungelernte Arbeitskraft wird eine Tagelöhnerarbeit für den Kläger in Kabul nicht zu finden sein, weil dort bereits eine große Zahl Tagelöhner Arbeit sucht, zumal er als Hazara durchaus Diskriminierungen unterliegt und auf keine Netzwerke seiner eigenen Volkszugehörigkeit zurückgreifen kann (vgl. zur Situation der Hazara: VGH vom 12.05.2011 Az. 13a ZB 10.30340).

Für den Kläger als Minderjährigen besteht zudem eine bedrohliche Gesundheits- und Versorgungslage in Afghanistan mit höchster Kindersterblichkeit und vielfach ungesichertem Zugang selbst zu sauberem Trinkwasser. Ohne seine Eltern als soziales Netzwerk kann der Kläger also in Kabul oder sonst an einem Ort in Afghanistan nicht überleben. Sowohl seiner zwangsweisen Rückführung als auch einer etwaigen freiwilligen Rückkehr stehen unüberwindliche rechtliche und tatsächliche Hindernisse im Weg (vgl. zur Situation von Minderjährigen: VGH vom 12.01.2011 Az. 13a ZB 10.30253).

Daher ist dem Kläger eine Ausreise nach Kabul nicht möglich und zumutbar, ihm drohte dort eine existenzielle Lebensgefahr. Für den Kläger ergibt sich daraus eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. [...]