VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 07.07.2011 - 12 A 242/08 - asyl.net: M19079
https://www.asyl.net/rsdb/M19079
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids und Verpflichtung des BAMF, das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen, obwohl seit der Dublin-Überstellung nach Griechenland im Jahr 2008 Aufenthalt des damals minderjährigen Klägers aus Afghanistan unbekannt ist.

1. Es fehlt nicht am Rechtsschutzbedürfnis, weil der Kläger das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen hat. Der Kläger ist auch klagebefugt, obwohl die Abschiebungsanordnung zwischenzeitlich vollzogen wurde.

2. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Dem steht Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO nicht entgegen, denn die Dublin II-VO verweist bei Fragen des Prozessrechts auf das innerstaatliche Recht.

3. Der Kläger hat einen subjektiv-öffentlichen Anspruch auf den Selbsteintritt des BAMF, da die gegenwärtige Asylpraxis in Griechenland den sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Anforderungen nicht genügt.

4. Das BAMF kann die Entscheidung über den Asylantrag nach Aktenlage treffen, denn die gemäß § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG erforderliche persönliche Anhörung hat im August 2008 vor der Abschiebung nach Griechenland stattgefunden.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Folgenbeseitigungsanspruch, minderjährig, Rechtsschutzinteresse, Selbsteintritt, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Änderung der Sachlage, subjektives Recht, Anhörung, Entscheidungsreife, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1, AufenthG § 11 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 5 Abs. 2, AsylVfG § 77 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 24 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1, VwGO § 113 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

Die von dem Kläger erhobene, auf Aufhebung der Bescheide vom 02. und 09. Oktober 2008 gerichtete Anfechtungsklage ist zulässig. Zwar erfordert § 82 Abs. 1 VwGO bei natürlichen Personen in der Regel die Angabe der Wohnungsanschrift. Die Erfüllung dieser Pflicht ist für den Prozessbevollmächtigten des Klägers hier jedoch aus nicht vom Kläger zu vertretenden Gründen unmöglich geworden, nachdem der Kläger nach Griechenland abgeschoben wurde und angesichts der dort für Asylbewerber herrschenden Situation vermutlich ohne festen Wohnsitz ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.04.1999 - 1 C 24.97 - DVBl 1999; 989). Der Klage fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger hat das Bundesgebiet nicht etwa freiwillig verlassen, weil er sein Asylverfahren nicht mehr betreiben wollte (vgl. dazu BayVGH, Urteil vom 04.04.2001 - 23 B 00.31540 -, juris). Vielmehr wurde er nach erfolgloser Durchführung zweier auf vorläufigen Rechtsschutz gerichteter Verfahren vor dem hiesigen Verwaltungsgericht (Az. 12 B 58 und 60/08) nach Griechenland abgeschoben. Schließlich ist der Kläger hinsichtlich der Aufhebung der Abschiebungsanordnung als klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO) anzusehen, obwohl diese zwischenzeitlich vollzogen wurde. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung als rechtswidrig steht zugleich fest, dass die Abschiebung rechtswidrig war. Obwohl die Abschiebung als Realakt nicht aufgehoben werden kann, folgt daraus, dass das pauschal durch jede Ausweisung, Zurückschiebung und Abschiebung ausgelöste Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG nicht mehr greift (HessVGH, Beschluss vom 20.01.2004 - 12 TG 3204/03 -, juris).

Die auf Aufhebung der Bescheide vom 02. und 09. Oktober 2008 gerichtete Klage ist auch begründet. Die Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO. Das Ermessen, das der Beklagten durch Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, vom 18. Februar 2003 (sog. Dublin II-VO) zugunsten des Klägers eingeräumt ist, ist auf die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts als einzig rechtmäßige Entscheidung reduziert.

Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (§ 27a AsylVfG). Wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat abgeschoben werden soll, ordnet das Bundesamt nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Zwar ist nach der Dublin II-VO prinzipiell Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nachdem am 15. September 2008 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin II-VO an Griechenland gerichtet wurde, haben die griechischen Behörden mit Schreiben vom 29. September 2008 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers gemäß Art. 10 Abs. 1, 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO erklärt. Entsprechend Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO hat das Bundesamt dem Kläger die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, ihn an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mitgeteilt. Gleichwohl ist hier ausnahmsweise die Beklagte für die Überprüfung des Asylantrags zuständig, wenngleich die in der Dublin II-VO geregelten Voraussetzungen für Ausnahmen von der Zuständigkeitsregelung (Kap. IV, Art. 15) nicht vorliegen.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die mündliche Verhandlung. Dem steht Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO nicht entgegen. Danach ist bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Abgesehen davon, dass dieser Grundsatz nicht für eine eingetretene Veränderung der Sachlage gilt, die die Prüfung der Anwendung von Ausnahmen von dem Zuständigkeitskatalog des Kapitels III Dublin II-VO im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 oder des Art. 15 Dublin II-VO nahelegen, handelt es sich bei der Regelung des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO nicht um eine vorrangige prozessrechtliche Norm, die § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG verdrängt. Vielmehr verweist die Dublin II-VO, soweit es um Fragen des Prozessrechts geht, auf das innerstaatliche Recht, wie sich aus Art. 19 Abs. 2 und 3, 20 Abs. 1 lit. e) Dublin II-VO ergibt (VG Frankfurt, Urteil vom 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A.(3) u.a. -, juris).

Aufgrund der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in Griechenland bestehenden besonderen Situation hinsichtlich der Gewährung eines menschenrechtskonformen Asylverfahrens hat der Kläger einen subjektiv-öffentlichen Anspruch auf den Selbsteintritt der Beklagten gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO. Danach kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Diese Bestimmung ist nicht allein im öffentlichen Interesse geschaffen worden, sondern verbürgt den von ihr Betroffenen ein subjektives Recht. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH kann ein Einzelner nicht nur dann aus dem Gemeinschaftsrecht subjektive Rechte herleiten, wenn diese ausdrücklich zugesprochen werden. Vielmehr genügt es, wenn aus einer Rechtsnorm klar und eindeutig eine Vergünstigung Einzelner hervorgeht, die keiner Bedingung und keinem zeitlichen Aufschub mehr unterliegt, und weder die Gemeinschaft noch die Mitgliedstaaten einen Spielraum zur Ausgestaltung besitzen. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Dublin II-VO dem Grunde nach erfüllt (VG Frankfurt, a.a.O. mit weiteren Nachweisen; vgl. auch VG Osnabrück, Urteil vom 19.04.2010 - 5 A 59/10 -; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 27a Rdnr. 5). Aus dem Wortlaut dieser Norm ergibt sich eine an die Beklagte gerichtete Ermessensermächtigung, deren Zweck allerdings nicht in der Norm selbst seinen Ausdruck gefunden hat, sondern sich aus der Zwecksetzung der Verordnung insgesamt und der im Zuge der durch Art. 63 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in der Fassung des Amsterdamer Vertrags vom 02.10.1997 vorgegebenen gemeinschaftsrechtlichen Asylharmonisierung ergangenen europäischen Richtlinien zum materiellen Asylrecht auf der einen und zum Verfahrensrecht sowie den Aufnahmebedingungen von Flüchtlingen auf der anderen Seite erschließt (VG Frankfurt; a.a.O.).

Das der Beklagten durch Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO eröffnete Ermessen ist zugunsten des Klägers auf die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts als einzig rechtmäßiger Entscheidung reduziert. Einzustellen in die Ermessensentscheidung ist, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die tatsächlichen Verhältnisse im griechischen Asylsystem den sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Mindeststandards genügen. Diese sind niedergelegt in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 über die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Aufnahme-RL), der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Verfahrens-RL) und der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL). Das Gericht schließt sich der von mehreren anderen Verwaltungsgerichten (VG Braunschweig, Urteile vom 01.06.2010 - 1 A 47/10 - und 27.12.2010 - 2 A 187/10 -, VG Frankfurt, a.a.O., VG Osnabrück, a.a.O., VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2009 - A 1 K 1757/09 - und VG Weimar, Urteil vom 18.08.2010 - 5 K 20216/09 -, sämtlich bei juris) gewonnenen Erkenntnis an, dass die gegenwärtige Asylpraxis in Griechenland den sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Anforderungen nicht genügt, weil die Situation in Griechenland die Durchführung eines geordneten, humanitären Mindestanforderungen genügenden Asylverfahrens derzeit nicht erwarten lässt. Der EGMR hat die Abschiebung nach Griechenland sogar als Verstoß gegen das Folterverbot angesehen (Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413). Mit Rücksicht auf die besondere Situation in

Griechenland hinsichtlich der Gewährung eines menschenrechtskonformen Asylverfahrens hat das Bundesministerium des Innern durch Erlass vom 19. Januar 2011 selbst entschieden, für die Dauer eines Jahres keine Überstellungen von Drittstaatsangehörigen nach der Dublin II-VO nach Griechenland durchzuführen. Daraus folgt in Übereinstimmung mit der zitierten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, dass die Beklagte dem Anspruch des Klägers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nur dadurch genügen kann, dass sie von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO wegen Ermessensreduzierung auf null Gebrauch macht. Es kann daher dahinstehen, ob die Beklagte auch aufgrund einer in ihrem Schreiben vom 18. Februar 2011 enthaltenen verbindlichen Zusage oder im Hinblick auf eine zum Zeitpunkt der Asylantragstellung (Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO) bestehende Minderjährigkeit des Klägers gemäß Art. 6 Dublin II-VO für die materielle Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig ist.

Einer Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über den Asylantrag des Klägers steht nicht entgegen, dass der Kläger sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhält (vgl. Renner, a.a.O., Art. 3 GG Rdnr. 112), zumal er dieses nicht freiwillig, sondern - wie ausgeführt - aufgrund zweier gerichtlicher Entscheidungen verlassen hat. Das Bundesamt kann eine Entscheidung nach Aktenlage treffen, denn die gemäß § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG erforderliche persönliche Anhörung des Klägers zu seinen Asylgründen hat am 29. August 2008, also noch vor seiner Abschiebung stattgefunden.

Ist die Beklagte somit verpflichtet, den Asylantrag des Klägers materiell zu prüfen, erweist sich auch die vom Bundesamt auf der Grundlage von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erlassene Abschiebungsanordnung zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als rechtswidrig, denn Griechenland ist nicht gemäß § 27a AsylVfG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Da die Abschiebungsanordnung somit aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), erübrigt sich die von dem Kläger begehrte Feststellung, dass deren Vollzug rechtswidrig war. Es fehlt insoweit an einem besonderen Feststellungsinteresse (§ 43 Abs. 1 VwGO), Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung steht zugleich fest, dass deren Vollzug rechtswidrig war.

Abzuweisen ist die Klage hingegen, soweit der Kläger begehrt, zu seinen Gunsten die Feststellung zu treffen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Würde das Gericht ein entsprechendes Verpflichtungsurteil erlassen, würde dem Kläger eine Tatsacheninstanz, und zwar auf inhaltliche Überprüfung seines Asylbegehrens durch das Bundesamt, genommen (VG Frankfurt, a.a.O.; VG Osnabrück, a.a.O.).

Ebenfalls keinen Erfolg haben kann der Kläger schließlich mit seinem Begehren, die Beklagte zu verpflichten, die Folgen des Vollzugs der Abschiebungsanordnung rückgängig zu machen. Zwar kann ein Betroffener grundsätzlich verlangen, dass die Behörde die Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rückgängig macht (§ 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Voraussetzung ist jedoch u.a., dass die Rückgängigmachung rechtlich und tatsächlich noch zulässig und möglich ist (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 3 VwGO; Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl., § 113 Rdnr. 87). Hier scheitert eine Rückgängigmachung der Abschiebung des Klägers zumindest daran, dass sein derzeitiger Aufenthaltsort gänzlich unbekannt ist. Sein Prozessbevollmächtigter hat seit nunmehr fast drei Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Mandanten. Es ist nicht erkennbar, welche konkreten Handlungen der Beklagten aufgegeben werden könnten, um dem Kläger unter Übernahme der Kosten eine Wiedereinreise zwecks Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik zu ermöglichen. [...]