VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 15.09.2011 - 18 K 6103/10.A - asyl.net: M19127
https://www.asyl.net/rsdb/M19127
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Homosexuellen aus Guinea wegen drohender Verfolgung durch Familienangehöriger und mangelnder Schutzbereitschaft staatlicher Stellen.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Guinea, homosexuell, nichtstaatliche Verfolgung, soziale Gruppe, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4c
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Nach dieser Vorschrift, darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht in einen Staat abgeschoben worden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung ausgehen von dem Staat (a), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (b), sowie nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter dem Buchstaben (a) und (b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 20.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ergänzend anzuwenden.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger läuft aufgrund seiner Homosexualität bei einer Rückkehr nach Guinea Gefahr, Opfer asylrelevanter, menschenrechtswidriger Behandlung zu werden, ohne dass eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen würde.

Die Kammer hält das Vorbringen des Klägers, wegen seiner Homosexualität von seiner Familie mit dem Tod bedroht worden zu sein, für glaubhaft. Der Kläger hat sein Schicksal insoweit sowohl vor dem Bundesamt wie vor der Kammer im Kern widerspruchsfrei und in sich plausibel geschildert. Dabei konnte der Kläger in manchen Einzelheiten sein Vorbringen bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung ausschmücken und abrunden, was für die Glaubhaftigkeit spricht. Für die Glaubhaftigkeit spricht auch, dass der Kläger sein Vorbringen auch nicht steigerte, obwohl er einige Fragen zum Anlass hätte nehmen können, sein Verfolgungsschicksal gegenüber der Schilderung vor dem Bundesamt zu dramatisieren. Anders als das Bundesamt kann die Kammer der Glaubhaftigkeit des Vorbringens nicht entgegenhalten, dass es nicht nachvollziehbar erscheine, dass die Familie des Klägers dessen Homosexualität nicht verheimlicht habe, um Schande von der Familie abzuwenden. Die Verheimlichung kann eine Reaktion einer Familie auf ein von Religion oder Sitte verbotenes Verhalten eines Familienmitgliedes sein, die zahlreichen Fälle etwa von Tötungen eigener Kinder und Geschwister aus Gründen der "Familienehre" zeigen aber, dass in islamischen Familien ein von Religion oder Sitte verbotenes Verhalten eines Familienmitgliedes nicht immer nur verschwiegen wird. In der Auslegung vieler konservativer Vertreter des Islams verlangt der Koran die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen, wobei als Strafe mithin auch die Todesstrafe angeführt wird. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus vorkommen, dass in einer islamisch geprägten Großfamilie die Homosexualität eines Familienmitgliedes nicht verheimlicht, sondern öffentlich verurteilt wird. Die Schilderung des Klägers, von seiner Familie ausgegrenzt, körperlich verletzt und mit dem Tod bedroht worden zu sein, ist daher nicht schon von vornherein unrealistisch und nicht glaubhaft.

Als Homosexueller ist der Kläger Angehöriger eine "sozialen Gruppe" im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 und 6 AufenthG in Guinea und muss die Zufügung gezielter Rechtsverletzungen wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe befürchtet. Dabei ist es unerheblich, dass die Misshandlungen, von denen der Kläger bei seiner Anhörung glaubhaft geschildert hat, nicht durch Staatsbedienstete, sondern durch Nachbarn und Verwandte ihm zugefügt worden sind. Insoweit kann der Kläger nämlich auf keinen Schutz staatlicher Stellen vertrauen, da der guineische Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz, 4 c AufenthG). Die guineische Gesellschaft ist insgesamt sehr traditionell geprägt, wobei ca. 85 % der Bevölkerung muslimisch sind. Religion, aber auch die große Armut und ein fehlendes staatlich organisiertes soziales Netz bedingen eine streng hierarchische und patriarchalische Gliederung. Staatlichen Gesetzen stehen zum Teil die traditionellen Sitten und das islamische Gesetz entgegen, wobei der Staat kaum in der Lage und willens ist, seine Vorschriften und Maßgaben durchzusetzen (vgl, Auswärtiges Amt, Auskunft vom 29.11.2004 an Verwaltungsgericht Arnsberg - 5008-516.80/43239 -; Institut für Afrika-Kunde. Auskunft vom 03.12.2004 an Verwaltungsgericht Arnsberg; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Glossar Islamische Länder, Band 5 Guinea, Februar 2011, S. 9).

Berücksichtigt man diese Auskunftslage, so sprechen keine stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der vor seiner Ausreise bereits verfolgt wurde, bei einer Rückkehr nach Guinea erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Schutz durch staatliche Stellen vor dem Übergriff seiner Familienangehörigen kann der Kläger nicht erwarten. [...]