VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 31.05.2011 - A 4 K 627/10 - asyl.net: M19175
https://www.asyl.net/rsdb/M19175
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen multipler Erkankungen (Diabetes mellitus Typ 1, psychische Erkrankung). Die Klägerin hat im Libanon keine nähere Verwandtschaft mehr, die sie über einen langen Zeitraum bei der Fortsetzung ihrer medizinischen Behandlung finanziell unterstützen könnte; sie könnte wegen ihrer geringen Qualifikation im Libanon auch keine angemessene Arbeit finden. Mittellose Patienten müssen im Libanon nach Möglichkeit 10 % der Kosten für medizinische Behandlungen selbst zahlen. Das Auswärtige Amt stellt in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass diese Selbstbeteiligung bei aufwändigen Behandlungen für ärmere Bevölkerungsteile unerschwinglich sein kann.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Libanon, Diabetes mellitus, Insulin, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung, alleinstehende Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Stattzugeben ist der Klage dagegen, soweit sie auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Libanons gerichtet ist. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen sind vorliegend im Hinblick auf die Erkrankung der Klägerin an Diabetes mellitus Typ 1 und ihrer damit in Zusammenhang stehenden weiteren Erkrankungen hinsichtlich des Libanons gegeben.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, Junis, Rn; 5 m.w.N.). Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogene Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung mit einzubeziehen. Dazu gehört die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen im Zielstaat (vgl. BVerwG, Urt. v 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, Juris). Von dem Vorliegen der zuletzt genannten Voraussetzungen muss hier ausgegangen werden.

Als maßgeblicher Zielstaat, also (grundsätzlich) der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt, kommt hier nur der Libanon in Betracht. Die medizinische Versorgung der Klägerin im Libanon ist jedoch aufgrund der hier gegebenen Umstände des Einzelfalles als nicht sichergestellt anzusehen. Die gesundheitliche Situation der Klägerin ist in besonderem Maße dadurch gekennzeichnet, dass sie an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt ist. Aufgrund dieser in der Bundesrepublik Deutschland festgestellten Erkrankung war eine stationäre Behandlung der Klägerin in der Berliner Charité erforderlich. [...] Seit ihrer Entlassung aus der stationären Behandlung wird die Klägerin ambulant behandelt. Aufgrund ihres multiplen Krankheitsbildes muss sie fortlaufend - derzeit sieben - Medikamente einnehmen. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin im Libanon über keine nähere Verwandtschaft mehr verfügt, die sie über einen langen Zeitraum bei der Fortsetzung der medizinischen Behandlung finanziell unterstützen könnte sowie aufgrund des Umstandes, dass sie aufgrund ihres - auch äußerlich für den medizinischen Laien erkennbar - schlechten Gesundheitszustandes sowie ihrer geringen Qualifikation im Libanon keine angemessene Arbeit finden wird, kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass auf Dauer die lebensnotwendige Behandlung ihrer Erkrankung, insbesondere auch mit Insulin zur Vermeidung eines sogenannten lebensgefährlichen diabetischen Komas sichergestellt ist. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass Behandlungen und Medikation für mittellose Libanesen auch durch eine Überweisung des Gesundheitsministeriums an dessen Vertragskrankenhäuser und Vertragsärzte erfolgen können. Hierbei muss der Patient nach Möglichkeit 10 % der Kosten selbst zahlen. Das Auswärtige Amt stellt in diesem Zusammenhang jedoch ausdrücklich fest, dass für die ärmeren Bevölkerungsteile auch diese Selbstbeteiligung bei aufwendigen Terminen unerschwinglich sein kann (vgl. Lagebericht Libanon vom 9.03.2010). Vor dem Hintergrund im vorliegenden Fall erkennbar schwereren Form einer Erkrankung an Diabetes mellitus Typ 1, die mit weiteren physischen und psychischen Erkrankungen verbunden ist, die offensichtlich eine langfristige umfangreiche Medikation erfordert, muss nach alldem davon ausgegangen werden, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Libanons gegeben sind. Aufzuheben ist damit auch die in dem angefochtenen Bescheid unter Nr. 4 erlassene Abschiebungsandrohung, soweit der Klägerin die Abschiebung in den Libanon angedroht worden ist (§ 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). [...]