VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Beschluss vom 15.11.2011 - 8 E 20271/11 Me - asyl.net: M19238
https://www.asyl.net/rsdb/M19238
Leitsatz:

Es bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer beabsichtigten Abschiebungsandrohung nach Italien.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Abschiebungsandrohung, Italien, Zweifel an der Rechtmäßigkeit, Hauptsacheverfahren
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AsylVfG § 34a Abs. 1, AsylVfG § 27a
Auszüge:

[...]

Nach Auffassung des Gerichts besteht auch weiterhin ein Anordnungsanspruch auf die begehrte einstweilige Anordnung. Es bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer beabsichtigten Abschiebungsanordnung nach Italien. Die Bundesrepublik Deutschland hat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschlüsse vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 und vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09) ungeachtet der Regelung in Artikel 16a Abs. 2 GG, §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungshindernisse nach § 60 AufenthG durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich heraus gesetzt sind. Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des "Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" (GFK) vom 28.07.1951 (BGBl 1953 II S. 560) und der "Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (EMRK) vom 04.11.1950 (BGBl 1952 II S. 953), die mit einer Gefährdung des Betroffenen, insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergehen, gegeben ist (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 29.07.2011 - 21 L 1127/11.A -, VG Gießen, Beschluss vom 10.03.2011 - 11468/11 GI.A -).

Ist die Schutzgewährung entsprechend den europa- und völkerrechtlichen Regelungen in einem Drittstaat oder in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union trotz deren grundsätzlicher Geltung in der Praxis nicht zumindest im Kern sichergestellt etwa auf Grund vorübergehender besonderer Umstände in dem betreffenden Staat, wie z.B. in Folge eines die Kapazitäten deutlich übersteigenden Zugangs von Flüchtlingen -, so ist diese Situation für den Betroffenen von vergleichbarem Gewicht, wie der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Sonderfall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a AsylVfG hierauf noch aussteht (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 29.07.2011 - 21 L 1127/11.A -; Beschluss vom 19.07.2011 - 5 L 1096/11.A -).

Ob dieser Schutz den Antragstellern bei Durchführung eines Asylverfahrens in Italien tatsächlich gewährleistet ist, ist im Rahmen eines u.U. von der Antragsgegnerin zu erzwingenden Hauptsacheverfahrens zu klären. Trotz der vom Bundesamt nunmehr dokumentierten Zahlen über Asylanträge in Italien und zur Verfügung stehenden Unterkunftsplätze bestehen weiterhin erhebliche Zweifel, dass bei der Durchführung von Asylverfahren in Italien die Kernanforderungen des europäischen Rechts beachtet werden. Zwar hat Italien alle europarechtlich vereinbarten Standards zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen, es gibt jedoch zahlreiche Hinweise darauf, dass die tatsächlichen Verhältnisse von den rechtlichen Vorgaben erheblich abweichen.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in Zusammenarbeit mit The "law students legal aid office" aus Norwegen im Mai 2011 einen Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende unter der Überschrift "Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien" vorgelegt. Aus diesem Bericht ergibt sich, dass Asylsuchende in Italien zunächst ihr Asylgesuch bei einer Questura stellen müssen und danach die formelle Registrierung ihres Asylantrages abwarten müssen. Während der Zeit bis zur formellen Registrierung, die einige Wochen aber auch mehrere Monate andauern kann, haben die Asylsuchenden keinen Anspruch auf eine Unterbringung oder finanzielle Unterstützung. Teilweise haben die Asylsuchenden bereits Schwierigkeiten beim Zugang zu einer Questura, weil die wachhabenden Polizisten normalerweise nur Italienisch sprechen und das Asylgesuch nicht entgegennehmen. Manche Asylsuchende im Süden von Italien wurden aufgefordert, sich in den Norden des Landes zu begeben, andere erhielten ein Papier, mit dem sie aufgefordert wurden, das Land zu verlassen. In der Zeit bis zur formellen Registrierung leben die Asylsuchenden in der Regel ohne Obdach auf der Straße. Nach der formellen Registrierung haben die Asylsuchenden Anspruch auf Unterkunft und Unterstützung. Die vorhandenen Unterkunftsplätze in den Aufnahmezentren reichen für die Zahl der Asylbewerber jedoch kaum aus und sind zudem nicht ausschließlich für Asylsuchende im Asylverfahren reserviert, sondern sollen allen Ausländern zur Verfügung stehen. Sie dienen mithin auch der Unterbringung der auf Grund der politischen Umwälzung in Nordafrika etwa 50.000 Flüchtlinge, die seit Anfang des Jahres an der italienischen Küste gelandet sind und in der Regel keine Asylanträge stellen. Ist es einem Asylsuchenden gelungen, einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung zu erhalten, steht dieser nur so lange zur Verfügung, bis der Asylsuchende den erstinstanzlichen Entscheid erhalten hat, was in der Regel etwa zwei Monate nach der Registrierung erfolgt. Frauen mit Kindern und andere verletzliche Gruppen dürfen je nach Kapazität und Auslastung des Zentrums etwas länger bleiben. Alle anderen verlieren mit Erlass des erstinstanzlichen Entscheids sowohl bei stattgebenden als auch bei ablehnenden Entscheiden sofort ihren Unterkunftsplatz und jegliche weitere Unterstützung. Die Gesundheitsversorgung der Asylbewerber ist zwar nach der italienischen Rechtslage grundsätzlich gewährleistet, tatsächlich verlangen jedoch einige Gemeinden den Nachweis eines festen Wohnsitzes. Da die Asylbewerber häufig keinen festen Wohnsitz vorweisen können, bleibt ihnen auch die Gesundheitsversorgung versagt. Viele Asylsuchende überleben nur dank der Hilfe karitativer Organisationen und übernachten in Parks und leerstehenden Häusern. Diese Situation in Italien wurde auch schon durch den Bericht über die Recherche-Reise nach Rom und Turin im Oktober 2010 von Bethke und Bender sowie von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittstaat" Italien vom November 2009 ähnlich dargestellt. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort vom 18.04.2011 auf eine kleine Anfrage; (BT-Drucksache 17/5579) mitgeteilt, dass Asylbewerber in Italien einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Unterkunft haben, gibt aber zu, dass ihr belastbare und detaillierte eigene Erkenntnisse über die Unterbringung von Asylbewerbern in Italien nicht vorliegen.

Eine abschließende Würdigung der in Italien herrschenden Zustände und ihre Auswirkuung auf den Asylsuchenden können nicht in summarischer Prüfung erfolgen. Da durch den Vollzug der Rückschiebung nach Italien vollendete Tatsachen zum Nachteil der Antragsteller geschaffen würden, die sie unzumutbar belasten würden, tritt das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Rücküberstellung hinter ihre privaten Interessen zurück, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache von der Abschiebung verschont zu bleiben.

Das Gericht folgt mit dieser Entscheidung seiner und auch der Rechtsprechung zahlreicher deutscher Verwaltungsgerichte (vgl. VG Meiningen, B. v. 21.09.2011 - 8 E 20262/11 Me - ; VG Stuttgart, B. v. 01.08.2011 - A 6 K 2577/11 : ; VG Düsseldorf, B. v. 29.07.2011 - 21 L 1127/11.A -; VG Augsburg, B. v. 08.07.2011 - Au b S 11.30229 -; VG Köln, B. v. 01.06.2011. - 14 L 564/11.A -; VG Braunschweig, B. v. 09.05.2011 - 7 B 58/11 -; VG Wiesbaden, B. v. 12.04.2011 - 7 L 303/11.WI.A -; VG Gießen, B. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A -). [...]