VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 08.11.2011 - 6 A 385/05 - asyl.net: M19241
https://www.asyl.net/rsdb/M19241
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für männliche Familienangehörige eines Kurden aus der Provinz Al-Tamim bzw. Kirkuk wegen der Gefahr der Blutrache. Weiblichen Familienangehörigen droht dagegen die Blutrache nicht.

Schlagwörter: Kuden, nationales Abschiebungsverbot, Blutrache, Blutfehde, Kirkuk, Peshmerga, Vergeltung, Irak
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Nach Überzeugung des Gerichts sind die Kläger zu 1., 3. und 5. als männliche Familienmitglieder im Irak mit der insoweit erforderlichen Wahrscheinlichkeit von Blutrache bedroht. Das Gericht hält die Angaben des Klägers zu 1. zu den Umständen der geschilderten Blutfehde für glaubhaft. Er hat bereits in seiner ersten Anhörung vor dem Bundesamt am 22. Januar 2002 (Beiakte A, Bl. 18) die Umstände geschildert, die zur Entstehung der Blutfehde geführt haben. Ein Cousin, der Baathist gewesen sei, sei in Kirkuk von Peshmerga getötet worden, woraufhin die Familie dieses Cousins Blutrache geübt habe. Als Teil der Familie dieses Cousins bestehe die Feindschaft der Familien der so getöteten Peshmerga auch ihm gegenüber. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg vom 18. März 2005 (3 A 585/02, Beiakte B, Bl. 19ff.) hat der Kläger zu 1. dies ebenso dargelegt und angegeben, dass der Vater des getöteten Cousins seit etwa einem Jahr verschwunden sei. In der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren wurde der Kläger zu 1. ausführlich zu diesen Vorfällen befragt. Widerspruchsfrei hat er geschildert, dass die Tötung seines Cousins durch Peshmerga im Jahr 1991 während der Kurdenaufstände erfolgte, und dass nach dem Racheakt der Familie des Cousins an den beiden Tätern erst nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 die Grenzen zwischen den kurdischen Gebieten und der Provinz At-Tamim/Kirkuk wieder so durchlässig war, dass die Peshmerga nach Kirkuk zurückkehren konnten. Der Vater des ursprünglich getöteten Cousins, ..., sei 2005 von Peshmerga ermordet worden, nachdem er zunächst einige Monate verschwunden gewesen sei. Hierzu hat der Kläger eine Kopie einer Telefaxkopie der Sterbeurkunde dieses Onkels vorgelegt, aus der sich sowohl das Todesdatum, der 12. April 2005, als auch die Todesursache, Schussverletzungen in Kopf und Brust, ergeben. Weitere Onkel und Cousins seien nach dem Sturz des Saddam-Regimes in den Süden des Landes, nach Bagdad bzw. Basra geflohen. Nur seine Mutter und die beiden verheirateten Schwestern mit ihren Familien lebten weiterhin in der Provinz Kirkuk. Er habe jedoch seit der Nachricht vom Tod des Onkels mit niemandem mehr Kontakt. Nachvollziehbar und glaubhaft hat der Kläger zu 1. weiter geschildert, dass er nicht wisse, ob erfolgreich über die Zahlung von Blutgeld oder "Versöhnungsgeld" mit den verfehdeten Familien verhandelt werden könnte. Er könne über seine Verwandten herausfinden, um welche Familien es sich dabei handele und könne diese so auffinden; Entscheidungen könne er jedoch insoweit selbst nicht treffen.

In der Stellungnahme vom 12. November 2005 an das VG Köln hat das EZKS dargestellt, dass hinsichtlich der Blutrache bei Tötungsdelikten zwischen vorsätzlichen, quasi vorsätzlichen und fahrlässigen Taten unterschieden werde. Auf vorsätzliche Taten stehe die sog. Vergeltung, d.h. die Tötung des Täters, wenn Täter und Opfer einander insbesondere nach Geschlecht und Religion gleichwertig seien. Grundgedanke der Blutrache sei es, dass der Täter bzw. dessen Familie denselben Verlust erleiden soll wie das Opfer bzw. dessen Familie. Daher könne der Täter selbst getötet werden, häufig werde an seiner Stelle jedoch ein naher Verwandet getötet. Die Blutrache könne sofort oder erst nach Jahren, auch nach längerem Ruhen der Fehde, geübt werden. Eine Gesetzmäßigkeit gebe es hierfür nicht, Blutrache verjähre nicht. Täter und Bluträcher seien frei, sich anstelle der Vergeltung auf ein Blutgeld zu einigen. Ob eine einvernehmliche Lösung gefunden werde, hänge aber entscheidend vom Verhandlungsgeschick der Verhandlungsführer oder Schlichter ab.

Die Kläger können auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Das EZKS führt in der zitierten Stellungnahme aus, dass es nur dann die Möglichkeit gebe, sich der Gefahren in anderen Landesteilen zu entziehen, wenn wirklich jeder Kontakt zu Verwandten gemieden werde. Auch wenn dies möglich wäre, müssten die Kläger jedoch mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rechnen, da das Ladengeschäft, auf welchem die Existenz vor der Flucht beruhte, nur gemietet war und seitdem nicht mehr existiert.

Auch wenn der Kläger zu 1. als Gegner in der Blutrachefehde stets "Peshmerga" bezeichnet, handelt es sich vorliegend nicht um eine Auseinandersetzung mit den so bezeichneten Milizen, die in der Region Kurdistan-Irak quasi-staatliche Aufgaben übernommen haben, sondern um Blutrache gegenüber Familienmitgliedern, die persönlich betroffen sind bzw. sein würden. Von der ursprünglichen Auseinandersetzung aufgrund politischer Motive hat sich der Konflikt offensichtlich völlig gelöst. Eine regionale Beschränkung auf die Region Kurdistan-Irak oder die Provinz Al-Tamim/Kirkuk kann daher nicht angenommen werden. Glaubhaft und nachvollziehbar hat der Kläger zu 1. dargelegt, dass er und seine Familie über den Familiennamen, der in den Verfahrensakten unvollständig wiedergegeben ist, auch in anderen Landesteilen aufzufinden und zu identifizieren sei.

Ein Abschiebungsverbot ist dagegen für die Klägerinnen zu 2. und 4. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht festzustellen, da nach den Darlegungen der Kläger in der mündlichen Verhandlung nur männliche Familienmitglieder von Blutrache bedroht sein können. Dies stimmt mit der zitierten Auskunft des EZKS hinsichtlich der "Gleichwertigkeit" von Täter und Opfer im vorliegenden Fall überein. [...]