VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.12.2011 - A 9 S 2939/11 - asyl.net: M19265
https://www.asyl.net/rsdb/M19265
Leitsatz:

Die fehlerhafte Ablehnung eines Hilfsbeweisantrags fällt jedenfalls dann in den Anwendungsbereich der Gehörsrüge nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO, wenn der Sache nach nicht ein Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht geltend gemacht, sondern die Nichtberücksichtigung wesentlichen Sachvortrags gerügt wird (hier: Ablehnung eines Hilfsbeweisantrags wegen Wahrunterstellung.

Schlagwörter: Sachaufklärungspflicht, Beweisantrag, Beweiswürdigung, Hilfsbeweisantrag, Gehörsrüge, Wahrunterstellung
Normen: GG Art. 103 Abs. 1, VwGO § 86 Abs. 1, VwGO § 138 Nr. 3, AsylVfG § 78 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verbürgt, dass ein Beteiligter vor einer Gerichtsentscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen und als Subjekt Einfluss auf das Verfahren nehmen kann. Als "prozessuales Urrecht" sichert das rechtliche Gehör den Betroffenen insbesondere, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, Plenumsbeschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 [408 f.]). Die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages kann daher nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zur Zulassung der Berufung führen.

a) Allerdings hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Beweisanträge hier im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nur hilfsweise gestellt.

Derartige Hilfsanträge sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber nicht nur von der verfahrensrechtlichen Pflicht des § 86 Abs. 2 VwGO, über sie vorab durch Gerichtsbeschluss zu entscheiden, entbunden. Das Bundesverwaltungsgericht geht vielmehr davon aus, dass mit einem nur hilfsweise gestellten Beweisantrag auch materiell "lediglich die weitere Erforschung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO angeregt" wird (so etwa BVerwG, Beschlüsse vom 19.08.2010 - 10 B 22.10 u.a. -, vom 30.11.2004 - 1 B 48.04 -, vom 07.03.2003 - 6 B 16.03 -, vom 10.06.1999 - 9 B 81.99 - und vom 09.05.1996 - 9 B 254.96 -).

Insoweit liegt ein etwaiger Verstoß nicht im Anwendungsbereich der Gehörsrüge. Art. 103 Abs. 1 GG schließt zwar das Recht der Beteiligten ein, die für sie günstigen Tatsachen darzulegen und unter Beweis zu stellen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet jedoch keinen Anspruch darauf, dass das Gericht Tatsachen erst beschafft oder von sich aus ermittelt. Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen hat, begegnet daher unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 1 GG regelmäßig keinen Bedenken (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 15.04.1980 - 2 BvR 827/79 -, BVerfGE 54, 86 [92 f.]). Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kann in der Ablehnung von Hilfsbeweisanträgen folglich regelmäßig auch kein Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegen, vielmehr ist allein die Aufklärungsrüge eröffnet (so ausdrücklich etwa BVerwG, Beschluss vom 30.11.2004 - 1 B 48.04 -; gleichwohl eine Sachprüfung durchführend aber etwa BVerwG, Beschluss vom 09.02.2011 - 1 B 21.10 u.a. -).

Auf die Behauptung eines Verstoßes gegen die Amtsaufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO kann ein Antrag auf Zulassung der Berufung im Asylverfahren indes nicht gestützt werden, weil dieser Zulassungsgrund in § 138 VwGO, auf den § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG abschließend verweist, nicht genannt ist (vgl. hierzu etwa VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.06.2011 - A 8 S 700/11 - m.w.N. zur Rechtsprechung). Eine über Verfahrensfehler hinausgehende Kontrolle materieller Art ist für die Berufungszulassung im Asylverfahren aber nicht vorgesehen, weil in die gesetzliche Anordnung des § 78 Abs. 3 AsylVfG der Berufungszulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel bewusst nicht aufgenommen worden ist.

Soweit mit der Beschwerde der Sache nach ein Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht geltend gemacht wird, scheidet eine Verletzung des in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs deshalb auch dann aus, wenn ein Hilfsbeweisantrag abgelehnt worden ist.

b) Anderes gilt aber (jedenfalls) dann, wenn die Beschwerde der Sache nach die Nichtberücksichtigung wesentlichen Sachvortrags rügt.

Die Gewährleistung rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführung der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll Art. 103 Abs. 1 GG sicherstellen, dass gerichtliche Entscheidungen frei von Verfahrensfehlern ergehen, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung wesentlichen Sachvortrags haben. Danach ist es zwar unschädlich, wenn Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt bleibt. Erheblicher Vortrag und entsprechende Beweisangebote, deren Ablehnung im Prozessrecht keine Stütze findet, müssen aber berücksichtigt werden (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 30.01.1985 - 1 BvR 393/84 -, BVerfGE 69, 141 [143 f.]; Kammerbeschluss vom 22.01.2001 - 1 BvR 2075/98 -, NJW-RR 2001, 1006). Denn Art. 103 Abs. 1 GG sichert nicht nur die formale Möglichkeit, eine Rechtsverletzung vor Gericht geltend zu machen, sondern verbürgt eine effektive Kontrolle, bei der die Beteiligten auch "wirklich gehört werden" (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 [4091). Wird dagegen wesentlicher Inhalt der klägerischen Tatsachenbekundung unberücksichtigt gelassen, so verletzt dies die Gehörsgarantie (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 18.05.1995 - 4 C 20.94 -, BVerwGE 98, 235 [2381).

Lehnt ein Gericht einen Beweisantrag ab, weil die benannte Beweistatsache als wahr unterstellt wird, muss das Vorbringen deshalb der Entscheidung auch tatsächlich - und zwar "ohne jede inhaltliche Einschränkung" (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 47.85 -, BVerwGE 77, 150 [155]) - zugrunde gelegt werden. Verstößt ein Gericht hiergegen, verletzt es auch die durch Art. 103 Abs. 1 GG gesicherte Verpflichtung, das klägerische Vorbringen zu berücksichtigen. Der Sache nach wird hier damit nicht eine fehlende Aufklärung gerügt, sondern eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Eine entsprechende Rüge unterfällt deshalb auch dann dem Gewährleistungsbereich des Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie die Ablehnung eines nur hilfsweise gestellten Beweisantrags betrifft (ebenso BVerfG, Kammerbeschluss vom 22.09.2009 - 1 BvR 3501/08 -; hierzu auch Sächs. OVG, Beschluss vom 26.05.2005 - 3 B 16/02.A - unter Aufgabe der früher verlangten Obliegenheit, zur Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten auch einen unbedingten Beweisantrag zu stellen). Anhaltspunkte dafür, warum ein Hilfsbeweisantrag in dieser Konstellation aus dem Anwendungsbereich der Gehörsrüge ausgeschlossen sein sollte, sind nicht ersichtlich.

c) Mit der Behauptung, das Verwaltungsgericht habe den als wahr unterstellten Tatsachenvortrag des Hilfsbeweisantrags seiner Entscheidung lediglich formal zugrunde gelegt, in seiner Begründung aber faktisch unberücksichtigt gelassen, ist daher ein gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. 138 Nr. 3 VwGO statthafter Zulassungsgrund geltend gemacht. [...]