VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 15.12.2011 - 5 L 1869/11 - asyl.net: M19290
https://www.asyl.net/rsdb/M19290
Leitsatz:

Auch unter Berücksichtigung des Berichts "Zur Situation von Flüchtlingen in Italien von Oktober 2010" und der Entscheidung des BVerfG von 1996 bleibt ein Antrag auf aufschiebende Wirkung wegen einer Zurückschiebung nach Italien erfolglos.

Schlagwörter: Italien, Dublin II-VO, Dublinverfahren, minderjährig, unbegleitete Minderjährige
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 22.08.2011 - 5 L 744/11 -, mit dem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 18.07.2011 abgelehnt wurde, hat keinen Erfolg. [...]

Diese Einschätzung, dass eine Rückführung nach Italien generell zulässig ist, wird durch die Ausführungen des Bundesamtes im Entscheiderbrief 7/2011 "Flüchtlinge in Italien - Verfahrensgarantien gewährleistet?" mit Nachdruck unterstrichen. Dort heißt es, dass sich die Gerichte, die entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG einstweiligen Rechtsschutz gewähren, vielfach auf den Bericht über eine kirchlich-anwaltliche Recherchereise im Oktober 2010 (Asylverfahrensberaterin des evangelischen Dekanats Gießen Maria Bethke und Rechtsanwalt Dominik Bender, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien, veröffentlicht von Pro Asyl im Februar 2011) sowie auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sicheren Drittstaatenregelung aus dem Jahre 1996 (BVerfGE 94, 49 (99 ff.) stützten:

"Der Titel des Berichts "Zur Situation von Flüchtlingen in Italien" erweckt den Eindruck, es werde ein umfassendes Lagebild vermittelt.

Tatsächlich befasst er sich jedoch ausdrücklich nur mit Personen, die einen Schutzstatus in Italien erhalten haben, und dies nur auf Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea oder Äthiopien bezogen, die in Rom oder Turin leben. Ausgeführt ist, dass die überwiegende Zahl in Italien Schutz genießt. Dennoch wird der Bericht häufig herangezogen, um eine generell schlechte Situation für Schutzsuchende in Italien zu begründen, unabhängig von Status und Herkunft der jeweiligen Person (Erkenntnisse, dass es in Italien keinen effektiven Zugang zum Asylverfahren gibt, liegen dem Bundesamt nicht vor. Dies wird auch nur in wenigen Verfahren vorgetragen und lässt sich nicht auf den Bericht stützen. Schutzsuchende erhalten nach ihrer Ankunft in Italien eine Broschüre, in der ihre Rechte im Asylverfahren beschrieben sind. Diese Broschüre liegt in mehreren Sprachen vor und ist im Internet verfügbar: www.interno.it/mininterno/export/sites/default/it/assets/files/16/0104_SPRAR_Vademecum.pdf <Abruf 25.05.2011>. Zu den rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen der Schutzgewährung in Italien vgl. z.B. US Department of State, Human Rights Report Italy 2010, www.state.gov/documents/organization/160195.pdf <Abruf 25.05.2011>).

Von den im Bericht beschriebenen Personen finden sich nur wenige im deutschen Dublin-Verfahren wieder. Denn viele der somalischen, eritreischen und äthiopischen Schutzsuchenden sind in Italien als Flüchtlinge anerkannt. Auf anerkannte Flüchtlinge findet das Dublin-Verfahren keine Anwendung. Entsprechend wurden im Jahr 2010 nur 79 Personen aus den genannten Herkunftsländern im Rahmen des Dublin-Verfahrens von Deutschland nach Italien überstellt (insgesamt wurden 395 Personen im Jahr 2010 von Deutschland nach Italien überstellt). Der Bericht kritisiert in erster Linie die Aufnahmebedingungen von Schutzsuchenden in Italien. Asylsuchende kämen nur für eine begrenzte Zeit während des Asylverfahrens in einer Erstaufnahmeeinrichtung unter. Spätestens nach Abschluss des Asylverfahrens würden sie entlassen und damit in der Regel obdachlos. Dies gelte unabhängig vom zugesprochenen Schutzstatus. Plätze des staatlichen Aufnahmesystems (SPRAR) (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati) stünden nur unzureichend zur Verfügung. Außerdem fehle ein Sozialsystem, welches Wohnraum und ein Existenzminimum garantiere. Dies ist allerdings vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Zahl der Asylanträge in Italien seit 2008 bis 2011 stark rückläufig war (2010 wurden 10.050 Asylanträge gestellt; 2009 waren es noch 17.670 und 2008 sogar 30.145) Quelle (Eurostat, vgl. Entscheiderbrief 6/2011, S. 2 ff.) und gleichzeitig neue Unterbringungsplätze für Asylantragsteller geschaffen wurden. Außerdem haben Asylbewerber einen Anspruch auf einen Unterkunftsplatz, der auch gerichtlich durchgesetzt werden kann.

Allerdings sind Unterkunftsplätze teilweise regional schlecht verfügbar. Antragsteller finden deshalb oft keinen Platz in den Ballungszentren und werden anderen Regionen zugewiesen. Auf ganz Italien bezogen stehen genügend Unterbringungsplätze zur Verfügung, nach Auskunft der italienischen Behörden im Notfall bis zu 50.000. Nach Abschluss des Asylverfahrens haben Personen, denen ein Schutzstatus gewährt wurde, hinsichtlich aller Sozialleistungen die gleichen Rechte und Pflichten wie italienische Staatsangehörige (zum italienischen Sozialsystem insgesamt vgl. www.rom.diplo.de/contentblob/2048416/Daten/9534931sozialpol_it_pdf.Pdf <Abruf 25.05.2011>).

Damit erfüllt Italien seine Verpflichtung aus Art. 23 GFK, nach dem Flüchtlingen die gleiche Fürsorge zu gewähren ist wie italienischen Staatsangehörigen. Eine Besserstellung von Asylbewerbern und Personen, denen Schutz gewährt wurde - wie sie die Verfasser des Berichts fordern - ist nicht vorgesehen. Aus dem Umstand, dass Italien Asylbewerbern und anerkannten Flüchtlingen kein ähnliches soziales Netz bietet wie Deutschland oder andere europäische Staaten kann deshalb nicht geschlossen werden, dass Italien sich von seinen Verpflichtungen aus GFK und EMRK gelöst hätte (vgl. hierzu VG Regensburg, Beschluss vom 12.05.2011- RO 7 E 11.30208).

Der Bericht moniert zwar, dass viele Ausländer in besetzten Häusern und auf Brachflächen leben müssten, wo die Bedingungen sehr schwierig, die Gebäude überfüllt und die sanitären Einrichtungen unzureichend seien. Der Bericht hinterfragt dabei jedoch nicht die Motive (die ehemalige somalische Botschaft, in der die Bedingungen besonders schwierig gewesen sein sollen, ist inzwischen geräumt (s. TAZ v. 01.03.2011 und "Il Messagero" v. 27.02.2011)).

Ohne Quellenangabe wird weiter ausgeführt, dass der Zugang zum italienischen Gesundheitssystem einen festen Wohnsitz ("residenza") voraussetze und die beschriebenen Unterkünfte nicht als solcher anerkannt würden. Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes hat hingegen jede Person, die in Italien Asyl beantragt hat oder der Schutz gewährt wurde, einen gesetzlichen Anspruch auf Gesundheitsversorgung (Guida Practica per i titilari di protezione internazionale), unabhängig von einem festen Wohnsitz. Dieser Zugang zum Gesundheitssystem entspricht dem italienischer Bürger. Für freien Zugang zu allen ärztlichen Leistungen bedarf es der Meldung beim Nationalen Sanitätsdienst, der einen Gesundheitsausweis ausstellt. Für psychisch kranke Personen, die Asyl beantragt haben oder denen Schutz gewährt wurde, stehen besondere Unterkunftsplätze bereit, an denen sie behandelt werden können.

Personen, die in Italien einen Schutzstatus erhalten, haben auch das Recht zu arbeiten (Guida Practica per i titilari di protezione internazionale). Steuernummer und damit Zugang zum legalen Arbeitsmarkt mögen zwar im Grundsatz wieder von einem festen Wohnsitz ("residenza") abhängig sein. In der Praxis ist dies aber vielfach kein besonderes Hindernis. Viele Vereinigungen bieten ihre Anschrift als "Briefkastenadresse" an. Mit dieser erhalten die Flüchtlinge eine Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme.

Soweit der Bericht die Situation der Dublin-Rückkehrer als besonders problematisch beschreibt, ist anzumerken, dass alle im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien zurückgeführten Personen von der zuständigen Questura eine Unterkunft zugeteilt bekommen mit der Auflage, sich dort zu melden. Etliche Personen begeben sich jedoch nicht zu der zugewiesenen Adresse. War das Asylverfahren in Italien noch nicht abgeschlossen, wird der Asylbewerber in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht und das Asylverfahren fortgesetzt. Wie für alle anderen Asylbewerber in Italien besteht dabei ein Anspruch auf soziale Mindestleistungen.

Auch die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wird im Bericht kritisiert. Diese müssten ebenfalls häufig in besetzten Häusern und auf Brachflächen leben, ohne jeglichen Zugang zu sozialen Leistungen. Dabei verschweigt der Bericht nicht, dass Einrichtungen für Minderjährige in Italien ausreichend vorhanden sind.

Grund für den Verbleib in den beschriebenen Unterkünften sei, dass die Minderjährigen ein falsches Alter angeben, entweder um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten oder um nicht von ihrer Bezugsgruppe getrennt zu werden. Eine spätere Korrektur der Altersangabe sei nicht möglich. Aus einer Studie zu den Bedingungen für unbegleitete Minderjährige in acht Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (France terre d'Asile, LRED und CIR, The Reception and Care of unaccompanied minors in eight countries of the European Union, Okt. 2010, www.fance-terre-asile.ora/childrenstudies <Abruf 25.05,2 011>) und Gesprächen, die die Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit Vertretern von UNHCR Rom geführt hat, ergibt sich, dass unbegleitete Minderjährige nach ihrer Ankunft in Italien umgehend in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht werden. Es besteht mit Ankunft ein Anspruch auf Schulbesuch und medizinische Versorgung. Darüber hinaus gibt es besondere Ausbildungsprogramme für unbegleitete Minderjährige. Parallel zur Unterbringung wird ein Vormund bestellt. Erst danach kann Asyl beantragt werden.

UNHCR hat bestätigt, dass in den Aufnahmezentren für Minderjährige, die sich in allen Regionen Italiens befinden, ausreichend Plätze zur Verfügung stehen. Bei einer Überstellung einer minderjährigen Person nach Italien wird sie von Betreuern am Flughafen abgeholt, zur Aufnahmeeinrichtung gebracht und lückenlos weiterbetreut. Voraussetzung für die entsprechende Betreuung ist jedoch, dass die Person in Italien als minderjährig registriert ist. Nicht selten sind Asylbewerber in Italien allerdings als Erwachsene registriert, während sie in Deutschland angeben, knapp über 17 Jahre alt zu sein.

Vertreter von UNHCR Rom haben mitgeteilt, dass Altersangaben korrigiert werden können. Diese Personen müssen dann den Nachweis der Minderjährigkeit erbringen, z.B. durch Vorlage einer Geburtsurkunde. Auch die am Flughafen Rom tätige Hilfsorganisation unterstützt Minderjährige bei der Alterskorrektur, etwa durch Einholung medizinischer Altersfeststellungen.

Insgesamt ergeben sich somit derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass Italien sich von seinen Verpflichtungen gegenüber schutzsuchenden Personen gelöst hätte und § 34a Abs. 2 AsylVfG deshalb nicht anzuwenden ist (so auch: VG Ansbach, Beschlüsse vom 20.01.2011 - AN 9 E 10.30523 - und vom 26.01.2011 - AN 9 E 10.30522 -; VG Magdeburg, Beschluss vom 31.01.2011 - 5 B 40/11 MD -; VG Regensburg, Beschlüsse vom 14.01.2011 - RO 7 S 11.300018 - und vom 12.05.2011 - RO 7 E 11.30208 -; VG Trier, Beschluss vom 02.12.2010 - 5 L 1304/10.TR -; VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 09.05.2011 - Au 3 K 10.30468 -; VG Würzburg, Beschluss vom 22.03.2011 - W 6 E 11.30088 -; VG Hamburg, Urteil vom 30.07.2010 -13 K 3075/10.A -).

Das Gericht sieht nach wie vor keinen Grund, insbesondere an der Einschätzung des UNHCR zu zweifeln.

Zum Vortrag des Antragstellers über seine Erlebnisse in Italien ist derzeit auszuführen, dass er auch bei seiner Rückführung aus der Schweiz primär das Ziel verfolgte, nach Deutschland zu gelangen. Ein am 09.06.2011 nach Mailand zurückgeführter (zwei Jahre älterer) afghanischer Staatsangehöriger hat auf Nachfrage des Gerichts nach der ladungsfähigen Anschrift das Centro de Accoglienza in Mailand angegeben, was die Einschätzung unterstreicht, dass der Antragsteller seine Anstrengungen in Italien weniger auf die Durchführung des Asylverfahrens denn auf die Rückkehr nach Deutschland erstreckt hat.

Bestehen somit von Rechts wegen weiterhin keine Bedenken gegen eine Rückführung des Antragstellers nach Italien, ist der Antrag mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b Abs. 1 AsylVfG zurückzuweisen. [...]