SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Urteil vom 01.12.2011 - S 34 SO 217/10 - asyl.net: M19324
https://www.asyl.net/rsdb/M19324
Leitsatz:

Zum Anspruch auf Übernahme der Dolmetscherkosten seitens der Krankenkasse für eine Therapie gem. § 73 SGB XII bei Bezug von SGB II-Leistungen.

Schlagwörter: Kostenübernahme, Dolmetscher, Dolmetscherkosten, Psychotherapie, psychotherapeutische Behandlung, Krankenversicherung, Krankenkasse, SGB II, SGB XII, atypischer Ausnahmefall, atypischer Bedarf, Duldung, Teilhabeleistungen, medizinische Versorgung, medizinische Behandlung, medizinische Rehabilitation, Eingliederungshilfe, BSHG, Menschenwürde, SGB V, Posttraumatische Belastungsstörung,
Normen: SGB XII § 73, SGB II § 5 Abs. 2, SGB XII § 48, SGG § 54 Abs. 2 S. 1, SGB XII § 48, SGB XII § 53, SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1, SGB XII § 54 Abs. 1 S. 2, BSHG § 38 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid vom 08.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für einen Dolmetscher für die seitens der Krankenkasse der Klägerin mit Bescheiden vom 30.03.2010 bewilligten Therapiesitzungen.

Dabei geht die Kammer zunächst davon aus, dass das Erfordernis einer psychotherapeutischen Behandlung der Klägerin gegeben ist, zumal dies auch zwischen den Beteiligten nicht streitig war und sich die Klägerin zudem auf den Bescheid ihrer Krankenkasse vom 30.03.2010 stützen kann, in welchem diese Leistungen bewilligt wurden.

Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 73 SGB XII. Diesem Anspruch steht nicht bereits entgegen, dass sie SGB II-Leistungen bezieht, weil nach § 5 Abs. 2 SGB II lediglich die Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII ausgeschlossen sind. Einem Anspruch steht sodann nicht entgegen, dass die Klägerin - wie der Beklagte meint – von vornherein keinen Dolmetscher für die Wahrnehmung der Therapie benötigte. Vielmehr folgt die Kammer hier den ausführlichen und nachvollziehbaren Ausführungen der Therapeutin der Klägerin, Frau Dipl. Psych. ..., welche erklärte, dass die Klägerin zwar über Basiskenntnisse der deutschen Sprache verfüge, es für eine Aufarbeitung der Kriegserlebnisse und der Folgeproblematiken jedoch einer kompetenten sprachlichen Übersetzung bedürfe. Zur Durchführung der psychotherapeutischen Sitzungen sei deshalb die Anwesenheit einer Dolmetscherin notwendig, auch um sprachlich-semantische Missverständnisse zu vermeiden (Stellungnahme vom 23.04.2010, Bl. 3 der Gerichtsakte). Die Klägerin sei besonders sensibel und erwartungsängstlich, von anderen nicht angemessen verstanden zu werden. Überdies wechsle die Klägerin in Angstsituationen (u.a. bei der Erzählung traumatischer Inhalte) von sich aus unbeabsichtigt in ihre Muttersprache; ohne Dolmetscherin wäre dann die Kommunikation mit der Therapeutin beeinträchtigt (Schreiben vom 10.02.2011, Bl. 34 der Gerichtsakte). Die Kammer misst diesen Ausführungen erhebliches Gewicht bei, zumal die Therapeutin diejenige ist, welche am besten zu beurteilen in der Lage ist, auf welche Weise bei der Therapie ein Therapieerfolg erzielt werden kann. Gestützt werden diese Ausführungen auch von dem eigenen Bild, welches sich die Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung von den eher geringen Deutschkenntnissen der Klägerin machen konnte. Überdies ist es nach Auffassung der Kammer leicht nachvollziehbar, dass gerade die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen, welche nicht auf einer sprachlich beschreibenden Ebene verbleiben kann, sondern auch von der Klägerin innerlich angenommen werden muss, in der eigenen (Mutter-)Sprache wesentlich leichter fallen dürfte. Dass der Beklagte vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass er selbst noch im Verwaltungsverfahren (im Bescheid vom 08.06.2010) das Erfordernis eines Dolmetschers bejahte, auch in der mündlichen Verhandlung seinen Standpunkt nicht aufgab, die Klägerin benötige keinen Dolmetscher, bleibt unverständlich.

Nach § 73 SGB XII können Leistungen in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Diese "Öffnungsklausel" ermöglicht es, in Fällen, die vom (übrigen) Sozialleistungssystem nicht erfasst werden, Hilfen zu erbringen und damit einen "Sonderbedarf" zu decken (vgl. nur: Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl. 2010, § 73 SGB XII Rn. 4). Von der Vorschrift betroffen werden nur deshalb atypische ("sonstige") Lebenslagen, die nicht bereits durch andere Vorschriften des SGB XII erfasst sind,

Eine "sonstige" Lebenslage, also eine unbenannte, besondere, nicht von anderen Vorschriften des SGB XII erfasste, atypische Bedarfslage, deren Deckung zur Führung eines menschenwürdigen Lebens unerlässlich ist, liegt hier nach Auffassung der Kammer vor, weil die Dolmetscherkosten keinen anderen Leistungsbereichen des SGB XII, insbesondere nicht dem § 48 SGB XII oder den §§ 53 ff. SGB XII zugeordnet werden können (hierzu: sogleich). Die Bedarfslage der Klägerin ist auch "atypisch" im Sinne des § 73 SGB XII, weil sie sich gerade durch das Erfordernis auszeichnet, dass eine von der Krankenkasse bewilligte Leistung nur dann einen Heilungserfolg erbringen kann, wenn ein Dolmetscher zur sprachlichen Umsetzung dieser Leistung hinzugezogen wird, im Regelfall ein Dolmetscher indes nicht erforderlich wäre. Im Hinblick auf das Recht der Klägerin auf ihre körperliche Unversehrtheit würde ohne die Leistungserbringung auch ein Grundrecht der Klägerin verletzt (vgl. zu diesem Leistungserfordernis: BSG, Urteile vom 19.08.2010, Az.: B 14 AS 13/10 R und B 14 AS 47/09 R, Urteil vom 07.11.2006, Az.: B 7b AS 14/06 R, und BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09).

Der Einsatz von öffentlichen Mitteln ist auch gerechtfertigt im Sinne des § 73 SGB XII. Er ist dann gerechtfertigt, wenn die Leistungserbringung im Hinblick auf Art, Dringlichkeit und Schwere des zu deckenden Bedarfs einem Vergleich zu anderen ausdrücklich im SGB XII geregelten Lebenslagen standhält (Böttiger in: jurisPK-SGB XII, § 73 SGB XII, 1. Aufl. 2010, Rn. 29). Insoweit stellt das BSG darauf ab, ob es sich wegen der besonderen Bedarfslage, die eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47-74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist, um eine Aufgabe von besonderen Gewicht handelt (BSG v. 07.11.2006, B 7b AS 14/06 R - juris Rn. 22). Es ist auch hier eine wertende Betrachtung anzustellen, wobei auch soziale und gesellschaftliche Bewertungen, vor allem aber die Folgen einbezogen werden können (Berlit in: LPK-SGB XII, 7. Aufl., § 73 Rn. 9; Schlette in: Hauck/Noftz, SGB II, § 73 Rn. 7).

Nach diesen Maßgaben hält die Kammer den Einsatz öffentlicher Mittel für gerechtfertigt, weil mit der begehrten Kostenübernahme für einen Dolmetscher jedenfalls eine gewisse Nähe zu den Leistungen nach § 48 SGB XII gegeben ist. Tatsächlich kann die Klägerin die von ihrer Krankenkasse gewährten Leistungen erst dann wirksam in Anspruch nehmen, wenn ihr hierfür ein Dolmetscher zur Verfügung steht. Im Hinblick auf die bei der Klägerin bestehende Erkrankung einer posttraumatischen Belastungsstörung ist die begehrte Leistung sowohl der Dringlichkeit und Schwere als auch ihrem besonderen Gewicht nach unter Berücksichtigung der bereits von der Krankenkasse bestätigten Bewertung der Behandlungsbedürftigkeit geeignet, den Einsatz öffentlicher Mittel zu rechtfertigen. [...]

Die Klägerin konnte indes keinen Anspruch aus den §§ 48, 53 ff. SGB XII herleiten. Leistungen der Krankenhilfe nach § 48 SGB XII steht entgegen, dass dort auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V verwiesen wird. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) können jedoch Dolmetscherkosten im Rahmen des SGB V nicht übernommen werden, weil diese nicht Teil der medizinischen Behandlung sind (Urteil vom 10.05.1995, Az.: 1 RK 20/94; so auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 31.08.2006, Az.: L 7 VG 9/05). Das BSG führte aus:

"Versicherte können auch dann, wenn eine Verständigung zwischen ihnen und dem Arzt nicht möglich ist, nicht verlangen, dass auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen zur ambulanten Untersuchung oder Behandlung ein Dolmetscher (hier: Gebärdendolmetscher) hinzugezogen wird."

Einem Leistungsanspruch nach den §§ 53 ff. SGB XII, der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, steht bereits entgegen, dass für die Klägerin kein Grad der Behinderung (GdB) anerkannt ist und insoweit auch kein Antrag beim zuständigen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie gestellt wurde. Leistungsberechtigt sind nach § 53 Abs. 1 SGB XII indes nur Personen, für die eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX anerkannt ist. Selbst wenn man der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vertretenen Position folgen wollte und die Kammer der Klägerin inzident einen GdB zugebilligt hätte, stünde einem Leistungsanspruch überdies § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII entgegen, wonach Leistungen der medizinischen Rehabilitation denen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen. Dort ist indes - wie bereits ausgeführt - die Übernahme von Dolmetscherkosten nicht vorgesehen. Anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus der von der Klägerin benannten Entscheidung des OVG Lüneburg vom 11.01.2002 (Az.: 4 MA 1/02). Zwar hatte das OVG dort einen Anspruch auf Übernahme der Dolmetscherkosten im Rahmen der sozialhilferechtlichen Kranken- und/oder Eingliederungshilfe für möglich gehalten und ausgeführt:

"Übernimmt die Krankenkasse die Kosten einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (hier: zur Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung nach erlittener Folter) kann der Träger der Sozialhilfe verpflichtet sein, Eingliederungshilfe oder Krankenhilfe durch Übernahme der Kosten für einen (Fremdsprachen-)Dolmetscher zu gewähren, der zur Durchführung der Psychotherapie herangezogen werden muss."

Diese Entscheidung ist indes nicht auf die Sozialhilfe nach dem SGB XII übertragbar, weil sich das OVG zur Begründung maßgeblich auf § 38 Abs. 2 Satz 1 BSHG a.F. bezog, wonach Hilfen den im Einzelfall notwendigen Bedarf in voller Höhe befriedigen mussten. Diese Regelung entfiel allerdings bereits zum 01.01.2004; auch im SGB XII ist seit dem 01.01.2005 keine derartige Regelung mehr enthalten (ausführlich dazu: BSG, Urteil vom 16.12.2010, Az.: B 8 SO 7/09 R). Die weiteren Ausführungen der Klägerin zu diesem Urteil übersehen, dass mit dem Wechsel vom BSHG zum SGB XII auch ein systemischer Wechsel stattfand, der vereinfachende Übertragungen verwaltungsgerichtlicher Urteile zum BSHG auf das SGB XII verbietet. [...]