LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.01.2012 - L 20 AY 130/11 B ER - asyl.net: M19348
https://www.asyl.net/rsdb/M19348
Leitsatz:

Eine Kürzung der Leistungen im Sinne von § 1a Nr. 2 AsylbLG ist nur dann möglich, wenn aktuell und kausal ein Abschiebungshindernis durch den Leistungsberechtigten zu vertreten ist.

Schlagwörter: Kausalität, Mitwirkungshandlung, Mitwirkungspflicht, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, reiseunfähig, Reiseunfähigkeit, Leistungskürzung, Asylbewerberleistungsgesetz
Normen: SGG § 86b, AsylbLG § 1a Nr. 2
Auszüge:

[...]

Nach der somit hier maßgeblichen Vorschrift des § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiell-rechtlichen. Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Dabei sind der geltend gemachte Anspruch und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschützes, die Eilbedürftigkeit, glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung < ZPO>).

Ausgehend hiervon hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft, d.h. überwiegend wahrscheinlich (vgl. u.a. BVerfG vom 29.07.2003 - 2 BvR 311/03 in: NVwZ 2004, 95 f) gemacht. [...]

Zwischen den Beteiligten ist insofern zu Recht unstreitig, dass der Antragsteller, der eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzt, gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG zu dem von § 3 Abs. 1 AsylbLG begünstigten Personenkreis gehört. Die Voraussetzungen für eine Kürzung dieses Anspruchs nach § l a Nr. 2 AsylbLG sind mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungsberechtigte, bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, Leistungen nach dem AsylbLG nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Regelung sind zu vertretende Gründe in diesem Sinne nur dann gegeben, wenn das Verhalten bzw. Unterlassen des Ausländers seit dem Zeitpunkt des Entstehens der Ausreisepflicht in zurechenbarer Weise kausal für die Nichtabschiebbarkeit im Zeitpunkt der Leistungseinschränkung ist (vgl. u.a. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.02.2006 - L 3 AL 77/05; ferner Urteil des Senats vom 14.02.2011 - L 20 AY 46/08). Dies ist nur dann der Fall, wenn ohne das dem Antragsteller zur Last gelegte Verhalten einer Abschiebung nichts entgegenstünde, das vorwerfbare Verhalten also "conditio sine qua non" für den Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist. Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn der Antragsteller nur eine von mehreren die Abschiebung hindernden Ursachen gesetzt hat (u.a. VG Leipzig, Beschluss vom 03.03.1999 - 2 K 409/99; vgl. ferner GK zum AsylbLG, § 1a Rn. 100), etwa, weil aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus gesundheitlichen Gründen nicht vollzogen werden können (OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.02.2006 - L 3 AS 77/05 m.w.N.).

Ausgehend hiervon mag offen bleiben, ob der Antragsteller den Nichtvoltzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen ursprünglich zu vertreten hatte, weil er nicht an der Beschaffung von Pass(ersatz)papieren mitgewirkt, insbesondere den Passersatzpapierantrag nicht ausgefüllt hat; denn es fehlt jedenfalls seit dem 11.04.2011 (= Datum der ärztlichen Stellungnahme des Dr. ... an der im Rahmen des § 1a Nr. 2 AsylbLG notwendigen Kausalität dieser unterbliebenen Mitwirkungshandlung für den Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen, weil der Antragsteller seither mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit reiseunfähig ist und folglich eine von diesem nicht zu vertretende Unmöglichkeit des Vollzugs aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss ist der Senat befugt, eine etwaige Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu prüfen und im Rahmen der asylbewerberleistungsrechtlichen Bewertung zu berücksichtigten. Die Entscheidung des Senats vom 14.02.2011 - L 20 AY 46/08, auf die das Sozialgericht sich in diesem Zusammenhang stützt, vermag eine andere Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Zwar entfalten danach bestandskräftige asyl- oder aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, die dem Betroffenen eine Ausreisepflicht auferlegt haben, für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich so genannte Tatbestandswirkung, mit der Folge, dass die asyl- oder aufenthaltsrechtliche Bewertung ohne eigene Kompetenz zur Überprüfung als gegeben hinzunehmen ist. Unabhängig davon, dass der dem genannten Urteil des Senats vom 14.02.2011 zugrunde liegende Sachverhalt von dem hierzu entscheidenden insofern abweicht, als die dortigen Kläger nicht nur den verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug vollumfänglich erfolglos ausgeschöpft hatten, sondern auch mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht keine ihnen günstigere Entscheidung herbeiführen konnten, muss der im Urteil des Senats vom 14.02.2011 beschriebene Grundsatz jedenfalls dahingehend eingeschränkt werden, dass leistungsrechtlich bedeutsame neue Gesichtspunkte, die sich zeitlich erst nach der asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Entscheidung der Ausländerbehörde bzw. der ggf. in Anspruch genommenen Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit ergeben haben und die Anlass zu einer Änderung des asyl- oder aufenthaltsrechtlichen status quo geben könnten, auch im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens zu beachten sind.

Derartige neue Gesichtspunkte liegen hier vor, denn nach der ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie Dr. ..., Chefarzt der LVR Klinik Viersen, die am 11.04.2011 und damit nach Abweisung der Klage des Antragstellers gegen die Ablehnung des Asylantrags und Androhung seiner Abschiebung durch das Verwaltungsgericht Düsseldorf (mit Urteil vom 18.03.2011) erstellt wurde, ist der Antragsteller vor allem wegen der Gefahr suizidaler Kurzschlusshandlungen jedenfalls gegenwärtig (laut ärztlicher Stellungnahme "derzeit") reiseunfähig.

Durchgreifende, jedenfalls einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit entgegenstehende Zweifel an der Richtigkeit der Einschätzung des Dr. ... hat der Senat nicht. Zum einen ist Dr. ... als Facharzt für nervenärztliche Gesundheitsstörungen und den Antragsteller seit September 2010 behandelnder Arzt in der Lage, die auf seinem Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen zutreffend einzuschätzen. Zum anderen hat die Amtsärztin ... die Beurteilung des Dr. ... in ihrem amtsärztlichen Gutachten vom 23.09.2011 insofern bestätigt, als sie den Antragsteller wegen seiner psychiatrischen Erkrankung mit latenter Suizidgefahr für eine Rückkehr in sein Herkunftsland, die zumutbar nur auf dem Flugweg möglich ist, für nicht flugreisetauglich erachtet hat.

Ist es somit derzeit glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller seit dem 11.04.2011 (= Datum der ärztlichen Stellungnahme des Dr. ...) reiseunfähig ist und daher Anspruch auf - nicht um einen Teil des Barbetrags gemäß § 1a AsylbLG gekürzte - Leistungen nach § 3 Abs. 1 AsylbLG hat, so liegt auch ein Anordnungsgrund vor, denn Leistungen nach § 1a AsylbLG sichern nicht das verfassungsrechtliche Existenzminimum. Es ist den Betroffenen bei glaubhaft gemachtem Anordnungsanspruch daher regelmäßig nicht zuzumuten, für die Dauer des Hauptsacheverfahrens, das sich unter Umständen über Jahre hinziehen kann, mit diesen Leistungen auszukommen. Allerdings ist die Angelegenheit erst seit denn 31.05.2011 (= Eingang des Eilantrags bei dem Sozialgericht), nicht jedoch schon mit Stornierung des geplanten Termins zur Vorführung des Antragstellers bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Dortmund am 17.05.2011 eilbedürftig; denn für eine Verpflichtung der Behörde zur Erbringung vorläufiger Leistungen für Zeiten vor Eingang des Eilantrags bei Gericht besteht grundsätzlich kein Bedürfnis. (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 29a).

Unbegründet ist die Beschwerde ferner, soweit der Antragsteller sich gegen die Kürzung der in Form von Kontenkarten gewährten Sachleistungen um 48,57 Euro wendet. Diese Kürzung, die die Antragsgegnerin nicht nur in dem mit Widerspruch angefochtenen Bewilligungsbescheid vom 18.02.2011, sondern auch in sämtlichen zuvor ergangenen und bestandskräftig gewordenen Leistungsbescheiden vorgenommen hat, beruht nicht auf einem etwaigen dem Antragsteller vorwerfbaren Verhalten im Zusammenhang mit der Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Sinne des § 1a Nr. 2 AsylbLG. Rechtsgrundlage hierfür ist vielmehr § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG i.V.m. den Hinweisen des Innenministeriums des Landes NRW zur Durchführung des AsylbLG vom 30.06.1993 (BGBl. I S. 1074) in der Fassung des Artikels 65 der Siebenten Zuständigkeitsanpassungs-VO vom 29.10.2001 (BGBl. I S. 2785).

Gemäß § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG können bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 AsylbLG, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Abs. 1 S. 1 der Vorschrift Leistungen in. Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder als Geldleistungen im gleichen Wert erbracht werden. Ist die Deckung der einzelnen Bedarfe - wie hier bei dem Antragsteller - in solchen Mischformen erfolgt, so sind etwaige durch Sachleistungen bereits gedeckte Bedarfe bei der Berechnung der zu gewährenden Geldleistung bzw. in Wertgutscheinen o.ä. erbrachten Leistungen anteilig in Abzug zu bringen (vgl. Hohm, in, Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Loseblatt-Kommentar, Stand; Dezember 2009, § 3 Rn. 89 m.w.N.).

Ausgehend hiervon hat die Antragsgegnerin von den Sachleistungen, die sie dem Antragsteller in Form von Kontenkarten gewährt hat, bei summarischer Prüfung zu Recht einen Betrag i.H.v. insgesamt 48,57 Euro für Bedarfe in Abzug gebracht, die sie ihm (offensichtlich) für Kleidung, Haushaltsenergie sowie in der Gemeinschaftsunterkunft kostenlos zur Verfügung gestellte Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts erbracht hat. [...]

Im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens hält der Senat es für angemessen, die Antragsgegnerin bis zum Ende des Monats der Zustellung der Entscheidung des Senats vorläufig zu - nicht um einen Teil des Barbetrags nach § 1a AsylbLG gekürzten - Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu verpflichten; denn abgesehen davon, dass Leistungen nach dem AsylbLG lediglich monatsweise erbracht werden und vorliegend auch in monatlichen Abständen bewilligt wurden, ist es durchaus möglich, dass sich im Rahmen weiterer medizinischer Ermittlungen, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen, herausstellt, dass die psychische Erkrankung des Antragstellers einer Rückreise in das Heimatland nicht entgegensteht. Allerdings geht der Senat davon aus, dass die Antragsgegnerin bei im Wesentlichen gleich bleibenden Umständen unter Berücksichtigung der Ausführungen in der vorliegenden Entscheidung auch über den tenorierten Zeitraum hinaus weiter Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erbringen wird, ohne das Taschengeld nach § 1a Nr. 2 AsylbLG zu kürzen. [...]