OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.10.2011 - 11 B 3.10 - asyl.net: M19367
https://www.asyl.net/rsdb/M19367
Leitsatz:

Ein Verstoß gegen den ordre public kommt bei einer Sorgerechtsentscheidung in Bezug auf den Kindernachzug sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht in Betracht. Dabei ist nicht zu prüfen, ob das ausländische Gericht das dortige Recht fehlerfrei angewandt hat. Abzustellen ist allein auf die Wirkung der ausländischen Sorgerechtsentscheidung, also auf deren Ergebnis. Die eine ausländischen Sorgerechtsübertragung zugrundeliegende "ausländerrechtliche und ökonomische" Motivation, dem Kind durch die Übersiedlung zu seinem in Deutschland lebenden Elternteil eine bessere Förderung seiner schulischen und nachfolgenden beruflichen Ausbildung zu bieten und es ihm zu ermöglichen, unter wirtschaftlich besseren Ausgangsbedingungen Fuß zu fassen, spricht nicht gegen das Kindeswohl.

Schlagwörter: Visum; Kindernachzug zu allein sorgeberechtigtem Elternteil; Türkei; Anerkennung der ausländischen Sorgerechtsentscheidung; ordre public; verfahrensrechtliche Grundprinzipien; Kindeswohl; Anhörung des Kindes; unabhängige Stellungnahme einer sachverständigen Stelle; ausreichender Wohnraum; Lebensunterhaltssicherung; selbständige Erwerbstätigkeit
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 32 Abs. 4, AufenthG § 2 Abs. 4, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1, SGB II § 11, SGB II § 30, AufenthG § 6 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 6 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 5, AufenthG § 27, AufenthG § 29, AufenthG § 32 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung der Kläger ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Kläger können jeweils die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug nach § 6 Abs. 4 S. 1 und 2 i.V.m. §§ 5, 27, 29, 32 Abs. 3 AufenthG beanspruchen.

1. Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein sorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen.

a) Die 1994 und 1996 geborenen Kläger erfüllen die Altersvoraussetzungen, weil sie im Zeitpunkt der Visumantragstellung im November 2008, auf den insoweit abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 1997 – 1C 22.96 –; Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 –, bei juris, dort Rz. 16), jeweils das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Wird die Altersgrenze, wie hier für den Kläger zu 1), im Laufe des Verfahrens überschritten, folgt daraus allerdings, dass die übrigen Anspruchsvoraussetzungen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze vorgelegen haben müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zu Gunsten des Betroffenen können grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Insoweit bedarf es mithin bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, einer auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogenen Doppelprüfung (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 –, bei juris, Rz. 10; Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 -, a.a.O., Rz. 17).

b) Der Vater der Kläger, zu dem der Zuzug erfolgen soll, besitzt eine gegenwärtig bis zum 25. April 2012 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.

c) Ihm steht für die Kläger auch das alleinige Sorgerecht zu, weil es durch die Entscheidung des türkischen Familiengerichts vom 24. Februar 2006 von der Mutter der Kläger auf ihn übertragen wurde. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. Sie ist auch mit dem deutschen ordre public vereinbar und deshalb aufenthaltsrechtlich zu respektieren.

Zu den Grundlagen und Grenzen der Überprüfung einer ausländischen - im konkreten Fall ebenfalls türkischen - Sorgerechtsentscheidung auf seine Vereinbarkeit mit dem deutschen ordre public hat der 12. Senat des Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg im Urteil vom 29. September 2010 (OVG 12 B 21.09, zit. nach juris Rn 18 ff.) ausgeführt:

"Die Voraussetzungen, unter denen eine in der Türkei ergangene Sorgerechtsentscheidung in der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen ist, richten sich nach dem Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 - MSA - (BGBl. II S: 217), das für die Bundesrepublik Deutschland am 17. September 1971 (BGBl. II S. 1150) und im Verhältnis der Bundesrepublik zur Türkei am 16. April 1984 (BGBl. II S. 460) in Kraft getreten ist, bzw. nach dem Europäischen Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses vom 20. Mai 1980 - ESÜ - (BGBl. II 1990, 220), das für die Bundesrepublik Deutschland seit dem 1. Februar 1991 (BGBl. II S. 392) und im Verhältnis zur Türkei seit dem 1. Juni 2000 (BGBl. II S. 1207) in Kraft ist. Welches der beiden Übereinkommen vorrangig anzuwenden ist (vgl. dazu Art. 18 Abs. 2 MSA, Art. 19 ESÜ) kann offen bleiben, weil die jeweiligen Reglungen, die die Anerkennung ausländischer Sorgerechtsentscheidungen betreffen, hier zu identischen Ergebnissen führen.

Beide völkerrechtliche Vereinbarungen mit dem formalen Rang eines Bundesgesetzes haben grundsätzlich Vorrang vor §§ 108, 109 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG - vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586), die ebenfalls die Anerkennung ausländischer Entscheidungen sowie Anerkennungshindernisse normieren und die die bis zum 31. August 2009 gültige entsprechende Regelung in § 16 a des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FGG - abgelöst haben. Gleiches gilt in Bezug auf § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, der in Fällen wie dem vorliegenden als allgemeine zivilprozessuale Vorschrift nicht mehr anwendbar ist, seitdem speziellere Vorschriften auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit bzw. in Familiensachen bestehen (a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 – OVG 7 B 24.05 -, juris Rn. 39). Schließlich erfordert die Anerkennung ausländischer Gerichtsentscheidungen auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch kein besonderes Anerkennungsverfahren (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 1988, FamRZ 1989, 378, 389).

Nach Art. 7 Satz 1 MSA sind Maßnahmen, die die gemäß Art. 1 bis 6 MSA zuständigen Gerichte oder Verwaltungsbehörden nach innerstaatlichem Recht getroffen haben und zu denen auch die Übertragung der Personensorge für ein minderjähriges Kind zählt, in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. Diese Regelung darf in den Mitgliedstaaten nur dann unbeachtet bleiben, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist (Art. 16 MSA). Vergleichbare Vorschriften enthalten Art. 7 ESÜ (Anerkennung in einem Vertragsstaat ergangener Sorgerechtsentscheidungen) und Art. 10 Abs. 1 a) ESÜ. Danach können Anerkennung und Vollstreckung einer Sorgerechtsentscheidung versagt werden, wenn die Wirkungen der Entscheidung mit den Grundwerten des Familien- und Kindschaftsrechts im ersuchten Staat offensichtlich unvereinbar sind.

Aus den angeführten Regelungen ergibt sich, dass ausländische Sorgerechtsentscheidungen … grundsätzlich im Bundesgebiet anerkannt werden müssen (vgl. auch VGH München, Beschluss vom 3. Juni 1996 - 10 CS 98.1074 -, juris Rn. 10). Die Vorbehaltsklausel des ordre public kommt nur im Ausnahmefall zum Tragen, sodass bei der Prüfung, ob ein derartiger Ausnahmefall vorliegt, Zurückhaltung geboten ist. Ein Anerkennungshindernis wegen Verstoßes gegen den ordre public kann danach nicht schon dann angenommen werden, wenn die ausländische Entscheidung nicht überzeugend erscheint oder ein deutsches Gericht nach deutschem Recht anders entschieden hätte.

Das Erfordernis einer "offensichtlichen Unvereinbarkeit" schließt es ferner grundsätzlich aus, dass Gerichte oder Behörden eines Vertragsstaates die ausländische Entscheidung auf ihre materielle Richtigkeit hin ("révision au fond") überprüfen. Ein im Sinne der deutschen oder auch ausländischen Rechtsordnung "falsches" Ergebnis führt für sich genommen noch nicht zum Verstoß gegen den Vorbehalt des ordre public (…).

Nach alledem liegt ein Verstoß gegen den deutschen ordre public erst vor, wenn das Ergebnis in einem so starken Widerspruch zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen steht, dass es nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint (vgl. BVerwG, Beschluss

vom 29. Mai 1986 - 1 B 20.86 -, juris Rn. 6 ff. = FamRZ 1986, 351; BGH, Beschluss vom 18. September 2001, NJW 2002, 960, 961; BGH, Urteil vom 21. April 1998, BGHZ 138, 331, 334; Bumiller/Harders, Freiwillige Gerichtsbarkeit FamFG, 9. Aufl., § 109 Rn. 9).

Eine offensichtliche Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts kommt sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht in Betracht.

Aus verfahrensrechtlichen Gründen kann einer ausländischen Entscheidung die Anerkennung dann zu versagen sein, wenn das Verfahren von den Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maße abweicht, dass nach der deutschen Rechtsordnung nicht mehr von einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1986 - 1 B 20.86 -, juris Rn. 10 m.w.N. = FamRZ 1986, 381). In materiell-rechtlicher Hinsicht ist zu prüfen, ob die Entscheidung in der Sache selbst gegen rechtliche Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung verstößt. Prüfungsmaßstab sind in beiden Fällen vor allem auch die Grundrechte.

Überträgt man dies auf ausländische Sorgerechtsentscheidungen, so kann ein Verstoß gegen den ordre public insbesondere dann gegeben sein, wenn das Ergebnis der ausländischen Sorgerechtsentscheidung mit den Grundwerten des deutschen Kindschaftsrechts offensichtlich unvereinbar ist. Hierzu zählt vor allem das Wohl des Kindes, dessen Beachtung einen wesentlichen und unverzichtbaren Grundsatz des deutschen Familien- und Kindschaftsrechts bei allen Entscheidungen über das Sorgerecht darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. September 2006 – 2 BvR 2216/05 -, juris Rn. 15; BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2010 - 1 BvR 374/09 -, NJW 2010, 2333 ff.; s. z.B. auch §§ 1626 Abs. 3, 1666, 1696 Abs. 1, 1697 a BGB)."

Dem schließt sich der erkennende Senat an. Die Anwendung der obengenannten Grundsätze führt zu dem Ergebnis, dass die vom türkischen Familiengericht durch Urteil vom 24. Februar 2006 ausgesprochene Sorgerechtsübertragung zu respektieren ist, denn sie verstößt weder verfahrensrechtlich noch materiellrechtlich gegen den deutschen ordre public.

aa) Das Urteil leidet nicht an einem mit dem ordre public unvereinbaren Verfahrensmangel. Nach dem im Verwaltungsstreitverfahren nachgereichten Protokoll des türkischen Familiengerichts vom 24. Februar 2006 (Gerichtsakte Bl. 64) wurden die Kläger vom Familiengericht persönlich gehört. Sie haben der Übertragung des Sorgerechts jeweils zugestimmt und dies damit begründet, dass sich ihr Vater in einer besseren wirtschaftlichen Lage als ihre Mutter befinden würde und deshalb besser für sie sorgen könne. Soweit das Verwaltungsgericht angenommen hat, es handle sich um ein nachträglich erstelltes Gefälligkeitsprotokoll, handelt es sich um eine bloße Vermutung, die der Entscheidung nicht zugrundegelegt werden kann. Weder der Umstand, dass bestimmte protokollierte Aussagen bzw. Erklärungen im Urteil keine Erwähnung finden, noch etwaige inhaltliche Unstimmigkeiten dieser Aussagen bzw. Erklärungen zwingen zu dem vom Verwaltungsgericht gezogenen Schluss. Neben den Klägern selbst ist auch deren Mutter gehört worden und hat mit der gleichen Begründung ebenfalls die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater beantragt. Damit erfolgte die Übertragung im - während der Verhandlung ausdrücklich erklärten - Einvernehmen aller von der Entscheidung in rechtlicher Hinsicht unmittelbar betroffenen Familienmitglieder, zu denen die nicht gesondert angehörten Großeltern der Kläger nicht gehörten. Im Übrigen wurde ein Zeuge des Vaters der Kläger vernommen, der die jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern der Kläger ebenfalls bestätigte. Nach alledem vermag der Senat nicht zu erkennen, inwieweit das türkische Familiengericht gegen nach deutschen Maßstäben verfahrensrechtliche Essentialia gravierend verstoßen haben sollte. Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass nicht jede Abweichung von zwingenden Vorschriften des deutschen Prozessrechts bereits eine Verletzung des ordre public begründen kann. Der Vorbehalt des ordre public greift vielmehr nur dann, wenn das Verfahren von den Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maße abweicht, dass es nicht als in einem geordneten, rechtsstaatlichen Verfahren ergangen angesehen werden bzw. wenn - angesichts der sich in Sorgerechtsverfahren aus der notwendigen Orientierung am Kindeswohl ergebenden weitergehenden verfahrensrechtlichen Anforderungen - bereits das durchgeführte Verfahren eine offensichtlich fehlende Berücksichtigung des zwingend zu beachtenden Kindeswohls belegt. Prüfungsmaßstab sind auch insoweit insbesondere die Grundrechte. Nach der deshalb insbesondere zu berücksichtigenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 18. Juli 2006 - 1 BvR 1465/05 -, zit. nach juris Rn 29 f., Beschluss v. 29. Oktober 1998 - 2 BvR 1206/98 -, zit. nach juris Rn 57 ff., 76 ff.; Beschluss v. 18. Februar 1993 - 1 BvR 692/92 -, zit. nach juris Rn 11 f.) verlangen der verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz der Kinder und ihr Anspruch auf rechtliches Gehör zwar eine Verfahrensgestaltung, die eine eigenständige Wahrnehmung der Kindesbelange sicherstellt und es den Gerichten ermöglicht, die Grundlagen einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung möglichst zuverlässig zu erkennen. Wenn eine für die Zukunft des Kindes bedeutsame Entscheidung getroffen wird und wegen eines Konflikts zwischen den Eltern oder eines Interessenkonflikts zwischen den Eltern und dem Kind die Interessen des Kindes nicht hinreichend durch die Eltern wahrgenommen werden können, kann sich daraus bei Kindern, deren Alter und Reife eine eigene Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte nicht erlaubt, auch die Pflicht ergeben, das Kindeswohl verfahrensrechtlich dadurch zu sichern, dass dem Kind bereits im familiengerichtlichen Verfahren ein Pfleger zur Wahrung seiner Interessen zur Seite gestellt wird. Eine solche Konstellation ist hier aber nicht gegeben. Selbst wenn die vom zuständigen türkischen Gericht im Sorgerechtsverfahren durchgeführte Sachverhaltsaufklärung den materiellen Anforderungen des deutschen Familienrechts nicht in jeder Hinsicht genügen sollte, belegte das noch keine offensichtliche Verkennung oder gar Missachtung der grundrechtlich geforderten und insoweit zu den Grundwerten des deutschen Familienrechts zählenden Pflicht, das gerichtliche Verfahren wie auch die Sorgerechtsentscheidung selbst maßgeblich am Kindeswohl zu orientieren.

bb) Ein materiellrechtlicher Verstoß gegen den ordre public liegt ebenfalls nicht vor.

Insofern ist voranzustellen, dass es für sich genommen noch keinen Verstoß gegen den Vorbehalt des ordre public begründen würde, wenn eine Sorgerechtsübertragung auf den - wie hier - mit der Kindesmutter nicht verheirateten Vater nach türkischem Recht nicht möglich sein sollte, weil es, wie ausgeführt, nicht darauf ankommt, ob das türkische Gericht das dortige Recht fehlerfrei angewandt hat; eine solche Überprüfung ist dem Senat verwehrt.

Abzustellen ist allein auf die Wirkung der ausländischen Sorgerechtsentscheidung, also auf deren Ergebnis. Maßgeblich ist, ob die Entscheidung in der Sache selbst gegen Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung verstößt; Prüfungsmaßstab sind auch insoweit vor allem die Grundrechte bzw. die sich aus diesen ergebenden wesentlichen Grundwerte des deutschen Familien- und Sorgerechts. Es kommt nicht darauf an, ob die Sorgerechtsübertragung aus Kindeswohlgesichtspunkten geradezu zwingend ist. Maßgebend ist vielmehr, ob das Kindeswohl der Übertragung gegebenenfalls zwingend entgegensteht. Daher ist nur zu fragen, ob eine Abwägung der für und wider das Kindeswohl sprechenden Umstände zu dem Ergebnis führen kann, das Sorgerecht, wie erfolgt, auf den Vater zu übertragen, oder ob dieses Ergebnis offensichtlich unvertretbar ist. Dagegen würde der ordre public nicht schon dann verletzt, wenn die Begründung des ausländischen Gerichts, wie das Verwaltungsgericht dies angenommen hat, aus hiesiger Sicht defizitär ist oder wenn einem anderen Ergebnis aus hiesiger Sicht der Vorzug gegeben worden wäre.

Die das Urteil des türkischen Familiengerichts tragenden Erwägungen, die Kläger würden bei ihrem Vater in Deutschland in besseren wirtschaftlichen Verhältnissen leben, zeigt einen Umstand auf, der nachvollziehbar im Interesse des Kindeswohls der Kläger liegt. Gleiches gilt für die Erwägung, die Behandlung des Klägers zu 1), der am Fuß behindert sei, sei in Deutschland in besserem Maße gewährleistet. Dies sind vertretbare Erwägungen, die auch das Ergebnis der Entscheidung vertretbar erscheinen lassen. Damit kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht davon ausgegangen werden, dass das türkische Familiengericht das Kindeswohl "überhaupt nicht" in den Blick genommen habe. Soweit das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zumindest alternativ zu Grunde gelegt hat, dass dies "völlig unzulänglich" geschehen sei und dazu Ausführungen macht, nimmt es letztlich eine inhaltliche Überprüfung der ausländischen Sorgerechtsübertragung vor, die in dieser Weise nicht zulässig ist. Zwar ist nicht zu vernachlässigen, dass die Kläger aus den ihnen vertrauten Verhältnissen herausgelöst werden, und zu ihrem Vater bislang wenig Kontakt hatten. Auch dürfte die Eingewöhnung in eine für sie in vielerlei Hinsicht fremde Umgebung und einen fremden Kulturkreis, das Erlernen einer fremden Sprache und die Integration in das hiesige Schulsystem für die Kläger durchaus Schwierigkeiten mit sich bringen. Andererseits ist mit der durch die Sorgerechtsübertragung beabsichtigten Übersiedlung der Kläger nach Deutschland aber auch deren - durch bloße Unterhaltszahlungen ihres Vaters so nicht erreichbare - Chance verknüpft, eine bessere Förderung ihrer schulischen und nachfolgenden beruflichen Ausbildung zu erreichen und unter wirtschaftlich besseren Ausgangsbedingungen Fuß zu fassen.

Insoweit mag die Sorgerechtsübertragung "ausländerrechtlich und ökonomisch" motiviert gewesen sein. Die damit für die Kläger angestrebte Möglichkeit, potenziell bessere Zukunftschancen zu nutzen, spricht für sich genommen aber nicht gegen, sondern für das Kindeswohl. Dieses ist nicht nur durch die emotionalen Bindungen (insbesondere) zu den Eltern geprägt, sondern auch durch objektive Umstände materieller Art, die sich für die Kläger potenziell zukunftssichernd auswirken. Legt man zu Grunde, dass der Vater der Kläger Erfahrungen als Emigrant in Deutschland gesammelt hat und ebenso wie die Kindesmutter mit den Verhältnissen in der Türkei vertraut ist, so kann die übereinstimmende Entscheidung beider Elternteile, es wäre besser für die Kläger, in materiell und sozial stärker gesicherten Verhältnissen in Deutschland zu leben, durchaus als in deren wohlverstandenem Interesse liegend angesehen werden. Damit ergibt sich, dass das vom Verwaltungsgericht beanstandete Motiv, die Sorgerechtsentscheidung sei "ausländerrechtlich und ökonomisch“ motiviert, keine Umstände offenbart, die unter Kindeswohlgesichtspunkten sachwidrig wären, sondern Umstände, die aus Sicht der türkischen Familie durchaus dem Wohl ihrer Kinder entsprechen können. Überdies ist im vorliegenden Fall zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass die Mutter der Kläger ihr Sorgerecht selbst zumindest nicht umfänglich ausgeübt hatte, weil die Kläger bei ihren Großeltern untergebracht sind und nach Versterben des Großvaters lediglich noch von der gesundheitlich angeschlagenen Großmutter betreut werden. Dass sich die Folgen der Sorgerechtsübertragung deshalb für die Kläger schädlich auswirken würden, weil sie durch ihren Vater gravierende Nachteile zu erwarten hätten, ist ebenfalls nicht ersichtlich.

Weiter ist auch in materieller Hinsicht zu berücksichtigen, dass die Übertragung des Sorgerechts für die Kläger vom Vater auf die Mutter dem Willen beider Elternteile und der Kläger selbst entspricht, was im deutschen Recht gem. § 1671 Abs. 1, 2 BGB - wenn auch im Fall gemeinsamen Sorgerechts der nicht miteinander verheirateten Eltern und bei fehlendem Widerspruch des mindestens 14jährigen Kindes - sogar allein bereits einen Anspruch auf die entsprechende Sorgerechtsübertragung begründen würde, sofern nicht zwingend eine andere Regelung getroffen werden muss (Abs. 3). Die Regelung gilt zwar nicht für Eltern, die (noch) nicht über ein gemeinsames Sorgerecht verfügen. Diese könnten aber ohne weiteres zunächst ein gemeinsames Sorgerecht begründen, um sodann gem. § 1671 BGB vorzugehen.

Schließlich ist vorsorglich darauf hinzuweisen, dass der ordre public-Vorbehalt nicht dafür instrumentalisiert werden darf, die in § 20 Abs. 3 AuslG auch für den Fall des Vorliegens einer anzuerkennenden ausländischen Sorgerechtsübertragung noch vorgesehene Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde aufzunehmen und in diesem Rahmen nunmehr eine Prüfung insbesondere der Integrationsvoraussetzungen und der Integrationsfähigkeit des Kindes zu verlangen. Mit der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie) ist der Richtliniengeber im Wege typisierender Bewertung davon ausgegangen, dass in den Fällen des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Richtlinie ein Nachzug des Kindes zu dem sorgeberechtigten Elternteil ohne weitere Prüfung regelmäßig dem Kindeswohl entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 7. April 2009 - 1 C 17.08 -, zit. nach juris Rn 13). Dies hat der deutsche Gesetzgeber in § 32 Abs. 3 AufenthG insoweit übernommen, als ein Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem in Deutschland lebenden Elternteil besteht, wenn dieser "allein" sorgeberechtigt ist. Diese Entscheidung darf nicht durch eine Ausweitung der ordre-public-Vorbehalte gegen ausländische Sorgerechtsentscheidungen um eine "angemessene Integrationsprüfung" umgangen werden.