VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Gerichtsbescheid vom 14.12.2011 - 4 K 1828/11.A - asyl.net: M19370
https://www.asyl.net/rsdb/M19370
Leitsatz:

Keine Verteilung nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wenn der Aufenthalt bereits vor einer Verteilung faktisch geduldet wurde.

Schlagwörter: Aussetzung der Abschiebung, Duldung, Verteilungsverfahren, Duldungsbescheinigung, faktische Duldung
Normen: AufenthG § 15a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 15a Abs. 1 S. 3, AufenthG § 15a Abs. 4 S. 5, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Die angefochtene Zuweisungsentscheidung der Bezirksregierung Arnsberg vom 10. Oktober 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Hierzu hat die Kammer bereits in dem Verfahren gleichen Rubrums 4 L 451/11.A Folgendes ausgeführt:

"Zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheides lagen die Voraussetzungen des § 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht mehr vor. Zwar ist die Bezirksregierung Arnsberg (BR Arnsberg) gemäß § 15a Abs. 1 Sätze 3 und 5 AufenthG auf der Grundlage des § 15a Abs. 4 Satz 5 AufenthG und nach Maßgabe des Gesetzes über die Zuweisung und Aufnahme ausländischer Flüchtlinge (Flüchtlingsaufnahmegesetz - FIüAG -) grundsätzlich zur Verteilung und Zuweisung unerlaubt eingereister Ausländer, welche weder Asyl beantragt haben noch unmittelbar in Abschiebehaft genommen werden können, befugt; unabhängig davon, ob vorliegend materiell ein Asylgesuch im Sinne des § 13 AsylVfG geltend gemacht und der Antragsgegner schon aus diesem Grund nicht zur Verteilung des Antragstellers befugt gewesen wäre (siehe hierzu unten), gilt dies allerdings lediglich bis zu einer Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung oder über die Erteilung eines Aufenthaltstitels durch die Ausländerbehörde (§ 15a Abs. 1 und Abs. 4 Satz 4 AufenthG). Denn nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG befinden sich unerlaubt eingereiste Ausländer, die weder um Asyl nachsuchen noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebehaft genommen werden und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden können, lediglich vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung im Verteilungsverfahren.

Dem Antragsteller ist jedoch bereits kurz nach seiner unerlaubten Einreise (25. Mai 2011) von der Ausländerbehörde zunächst eine Duldung in Form einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (Aufenthaltsgestaltung vom 6. Juni 2011), die bis zum 6. August 2011 verlängert worden war, erteilt worden. Später wurde ihm eine vorläufige Bescheinigung über die Meldung als unerlaubt eingereister Ausländer, die ebenfalls verlängert worden war und letztendlich eine Duldung mangels gültiger Passersatzpapiere (vgl. Anhörung vom 21. September 2011) erteilt, wodurch eine Verteilung nach § 15a AufenthG nicht mehr möglich war.

Zwar hat der Antragsteller keine schriftliche Duldungsbescheinigung erhalten; eine solche ist allerdings auch nicht zwingend erforderlich, da eine Duldungsbescheinigung bei Bestehen von Duldungsgründen lediglich deklaratorischen Charakter hat. Eine Duldung kann mithin auch ohne Erteilung einer Bescheinigung vorliegen (vgl. Hofmann/Hoffmann, Kommentar zum Ausländerrecht, § 60a Rn. 30 und (letztendlich offengelassen) Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 23. November 1994 - 1 B 175.94 -, juris).

Eine solche faktische Duldung ist dem Antragsteller gewährt worden. Nachdem der Antragsteller zunächst in eine Pflegefamilie gegeben und unter die Vormundschaft des Jugendamtes gestellt worden war, hatte er eine Aufenthaltsgestaltung und - nachdem er einen Antrag auf Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gestellt hatte, eine Bescheinigung über die unerlaubte Einreise eines Ausländers erhalten, die mehrfach verlängert worden war - (zuletzt bis 28. Oktober 2011). Anschließend hatte die Ausländerbehörde festgestellt, dass der Antragsteller wegen fehlender Passersatzpapiere nicht in seine Heimat abgeschoben werden könne (vgl. Anhörung vom 21. September 2011), und hatte darüber hinaus der Bezirksregierung Arnsberg mitgeteilt, der Antragsteller sei bis zum Abschluss des Verfahrens wegen Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu dulden (Schreiben vom 26. September 2011).

Die jeweiligen Verlängerungen der "Vorläufigen Bescheinigung über die Meldung als unerlaubt eingereister Ausländer" und die Feststellungen der Ausländerbehörde betreffend die jeweiligen Duldungsgründe wegen seines Antrags auf Feststellung von Abschiebungshindernissen bzw. Unmöglichkeit der Abschiebung wegen Fehlens von Passersatzpapieren entsprachen inhaltlich § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen auszusetzen ist.

Für die weiteren Entscheidungen über räumliche Beschränkungen bzw. Erteilung einer Duldung oder einer Aufenthaltserlaubnis ist allein die Ausländerbehörde der Städteregion Aachen zuständig.

Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Zuständigkeit des Antragsgegners schon deshalb nicht gegeben ist, weil der Antragsteller Asyl beantragt hat.

Der Antragsteller hat nämlich möglicherweise im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens (Anhörung anlässlich seiner Einreise am 25. Mai 2011; Anhörung vom 21. September 2011) gegenüber der Ausländerbehörde materiell ein Asylgesuch im Sinne des § 13 AsylVfG geltend gemacht, allerdings bisher bewusst von der Stellung eines förmlichen Asylantrags (§ 14 AsylVfG) Abstand genommen. In einem derartigen Fall bliebe der Ausländerbehörde eine selbständige Entscheidung über die Gewährung von Abschiebungsschutz verwehrt, wenn die geltend gemachte zielstaatsbezogene Gefährdung thematisch dem Bereich politischer Verfolgung zuzuordnen wäre und daher gegebenenfalls, das heißt, wenn sich eine entsprechende Rückkehrgefährdung im konkreten Fall tatsächlich feststellen ließe, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG begründen würde. Die von dem Antragsteller bei seiner Anhörung (wenn auch nur knapp) geltend gemachte Gefährdung wegen seiner Religion und seiner Volkszugehörigkeit könnte die Frage politischer Verfolgung im Sinne der Definition des § 60 Abs. 1 AufenthG betreffen.

In diesem Fall wäre der Antragsteller auf das Verfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und damit im Ergebnis auf die Stellung eines Asylantrags zu verweisen, wobei dann die umfassende Zuständigkeit zur Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG (§ 31 Abs. 3 AsylVfG) ebenfalls bei dem Bundesamt läge. Dem Antragsteller steht insoweit kein Wahlrecht zu, das es ihm gestattete, auf die Einschaltung des Bundesamts zu verzichten und stattdessen die örtliche Ausländerbehörde mit der Thematik zu befassen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. März 2006 - 1 B 126/05 -, NVwZ 2006, 830 und juris; Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 1. Februar 2007 - 2 W 37/06 -, juris)." [...]