VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 09.01.2012 - 33 L 479.11 A - asyl.net: M19377
https://www.asyl.net/rsdb/M19377
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz gegen Dublin-Überstellung eines Minderjährigen nach Italien.

Schlagwörter: Italien, EGMR, Rücküberstellung, vorläufiger Rechtsschutz, Dublin II-VO, Europäische Grundrechtecharta, minderjährig, Obdachlosigkeit
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1, GR-Charta Art. 47 Abs. 1, EMRK Art. 13
Auszüge:

[...]

Das Gericht geht vorliegend von einem die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zulassenden Sonderfall aus. Es bestehen unter Berücksichtigung der Auskunftslage und anhängiger Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erhebliche Zweifel, ob Italien noch die hinreichende Gewähr dafür bietet, dass Ausländer, die dort einen Asyl- oder Schutzantrag gestellt haben bzw. im Falle ihrer Rücküberstellung noch stellen wollen, nicht von individuellen Gefährdungen bedroht sind (ebenso z.B. VG Meiningen, Beschluss vom 21.9.2011, 8 E 20262/11 Me, Rn. 14, 20, VG Düsseldorf, Beschluss vom 29.7.2011, 21 L 1127/11.A, Rn. 14, 37 ff.; VG Stuttgart, Beschluss vom 1.8.2011, A 6 K 2577/11: VG Magdeburg, Urteil vom 26.7.2011, 9 A 346/10; VG Augsburg, Beschluss vom 8.7.2011, Au 6 S 11.30229, Rn. 18; VG Köln, Beschluss vom 1.6.2011, 14 L 564/11, A, Rn. 8; VG Braunschweig, Beschluss vom 9.5.2011, 7 B 58/11, Rn. 10; VG Bremen, Beschluss vom 6.5.2011, 8 V 368/11.A, Rn. 8 und 11; VG Wiesbaden, Beschluss vom 12.4.2011, 7 L 303/11,WI.A, Rn. 8; VG Gießen, Beschluss vom 16.3.2011, 1 L 198/11.GI.A, Rn. 28; VG Frankfurt, Beschluss vom 2.8.2010, 8 L 1827/10.F.A, a.A. z.B. VG Ansbach, Beschluss vom 12.12.2011, AN 2 E 11.30535, Rn. 18, Beschluss vom 28.11.2011, AN 2 S 11.30530, und Beschluss vom 21.9.2011, AN 11 S 11.30425; VG Berlin, Beschluss vom 30.9.2011, VG 33 L 376.11.A, Beschluss vom 3.8.2011, VG 34 L 198.11 A, und Beschluss vom 11.4.2011, VG 23 L 84.11 A, VG Düsseldorf, Beschluss vom 12.9.2011, 6 L 866/11, A, Rn. 29; VG Saarland, Beschluss vom 22.8.2011, 5 L 744/11, Rn. 24; VG München, Beschluss vom 17.8.2011, M 16 E 11.30637, Rn. 20).

Zwar unterliegt Italien als Mitgliedstaat der EU dessen Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards eines gemeinsamen Asylsystems verpflichtet. Allerdings kann jedenfalls in der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt worden, dass es diesen Verpflichtungen rechtlich und tatsächlich in ausreichendem Umfang nachkommt. Hierauf kommt es jedoch an (vgl. nur EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, verbundene Rs. C-411/10 und C-493/10, Rn. 102; EGMR, Urteil vom 21.1.2011, M.S.S. / Belgien und Griechenland, appl. no. 30896/09, § 353).

Zur Situation in Italien liegen nicht nur Berichte von Pro Asyl e.V. (Bethke/Bender, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien vom 28.2.2011) und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in Zusammenarbeit mit der norwegischen Organisation JussBuss (Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien, Mai 2011) vor. In diesen Berichten wird auf das drängende Problem der Bereitstellung ausreichender Unterkunftsplätze und der Verzögerungen besonders zu Beginn des Asylverfahrens hingewiesen, während dessen die Antragsteller offenbar keinerlei Zugang zu Leistungen wie Unterkunft oder sonstigen Hilfen haben (SFH/JussBuss, a.a.O., S. 6, 10 f., 20; Bethke/Bender, a.a.O., S. 23, bezogen auf Dublin-Rückkehrer, die nach Rom-Fiumicino geflogen wurden).

Es sind vor allem mehrere Verfahren gegen Mitglieder des Europarates beim EGMR wegen der Abschiebung von Asylbewerbern bzw. anerkannten Flüchtlingen nach Italien aufgrund der Dublin II-VO anhängig (Verfahren mit den appl. no. 2303/10, 37159/09, 30815/09, 44517/09 und 64208/11). Zum Teil hat der EGMR in diesen Verfahren die einstweilige Aussetzung der Überstellung nach Italien gemäß Art. 39 seiner Verfahrensordnung angeordnet (z.B. appl. no. 2303/10, 37159/09, 30815/09). In dem gegen die Bundesrepublik Deutschland seit dem 19. Oktober 2011 anhängigen Verfahren (appl. no. 64208/11) hat die Bundesrepublik auf Anfrage des EGMR die Abschiebung des dortigen Klägers nach Italien ebenfalls für die Dauer des Verfahrens vor dem EGMR ausgesetzt, wie die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 6. Januar 2012 bestätigte. Gründe, weshalb die dortige Konstellation nicht auf andere Fälle übertragbar sein soll, wurden nicht genannt.

Endentscheidungen des EGMR liegen nach Erkenntnis der Einzelrichterin bisher nicht vor. In den oben genannten Verfahren hat der EGMR jedoch Fragen an die Parteien gerichtet, die unter anderem eine genaue Untersuchung eines möglichen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung noch Italien erwarten lassen. Der EGMR weist ferner in den Verfahren 37159/09 und 30815/09, in denen die Kläger geltend machen, während ihres Aufenthaltes und der Asylantragstellung in Italien minderjährig gewesen zu sein, auf einen Bericht des Menschenrechtsbeauftragten des Europarates Hammerberg aus dem Jahr 2009 hin, der die Lage minderjähriger Flüchtlinge in Italien schildert. Dies zeigt, dass der EGMR die in diesen anhängigen Vorfahren vorgetragenen Bedenken hinsichtlich einer ordnungsgemäßen Durchführung der Asylverfahren in Italien offenbar ernst nimmt.

Ob die Ermöglichung vorläufigen Rechtsschutzes gegen Entscheidungen nach der Dublin II-VO darüber hinaus sogar geboten ist, weil der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta (GRC) entgegensteht (so im Ergebnis VG Wiesbaden, Beschluss vom 12.4.2011, 7 L 303/11.WI.A, Rn. 4, Juris), kann somit dahinstehen. Dafür spricht, dass Art. 47 Abs. 1 GRC inhaltlich Art. 13 EMRK entspricht und der EGMR im Urteil M.S.S. / Belgien und Griechenland (Urteil vom 21. Januar 2011, appl. no. 30696/09) einen Verstoß gegen Art. 13 i./.m. Art. 3 EMRK festgestellt hat, weil die einschlägigen Vorschriften des belgischen Rechts keine aufschiebende Wirkung des gegen die nach der Dublin II-VO angeordnete Abschiebung erhobenen Rechtsmittels vorsahen (EGMR, a.a.O., Rn. 385 f., in diese Richtung auch EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a.a.O., Rn 109 ff.).

Der Antrag ist auch begründet. Zwar ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen anzusehen, was angesichts des gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung der Klage (vgl. § 75 AsylVfG) für einen Vorrang des Vollzugsinteresses sprechen könnte. Jedoch gebietet eine Folgenabwägung, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

In den Entscheidungen über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Überstellung nach Griechenland nach der Dublin II-VO hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass bei Versagung vorläufigen Rechtsschutzes, aber einem Obsiegen der Antragsteller in der Hauptsache bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden können, weil bereits die Erreichbarkeit der Antragsteller in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt wäre, sollte ihnen in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihnen die Obdachlosigkeit drohen. Ebenso wäre ihre Erreichbarkeit zur Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland im Falle ihres Obsiegens im Klageverfahren nicht gewährleistet. Die Nachteile, die entstünden, wenn die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wurden dagegen als weniger schwerwiegend angesehen und insbesondere ein Verstoß gegen die Dublin II-VO durch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verneint (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 8.9.2009, 2 BvQ 56/09, Rn. 6, und vom 23.9.2009, 2 BvQ 68/09, Rn. 5).

Diese Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu. Der Antragsteller hat eidesstattlich versichert, dass er nach seiner ersten Rücküberstellung im Rahmen der Dublin II-VO nach Italien am 23. Dezember 2010 nicht die an sich vorgesehene und im Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 6. Januar 2012 aufgeführte Betreuung erhalten hat. Vielmehr half ihm die Polizei in Bozen, wo er von der Flughafenpolizei mit einem Papier, dessen Inhalt er nicht verstand, hingeschickt wurde, nicht. Die beiden von ihm aufgesuchten Flüchtlingsheime (eines für Erwachsene, eines für Kinder und Jugendlichen) hatten keine Kapazitäten, ihn aufzunehmen. Er musste Ende Dezember 2010 zehn Tage unter der Brücke schlafen und kam danach für einige Zeit in einem Obdachlosenheim unter, welches aber nur eine Mahlzeit am Abend anbot. Für die Mittagsmahlzeit war er auf karitative Einrichtungen angewiesen. Geld von Behörden oder weitere Papiere hat er nicht erhalten. Es kann daher derzeit nicht davon ausgegangen worden, dass der Antragsteller bei einer erneuten Abschiebung nach Italien dort auf eine andere Situation trifft. Weder ist seine Erreichbarkeit sichergestellt noch bestehen ausreichende Anhaltspunkte, dass er nunmehr von Obdachlosigkeit verschont wäre. Insbesondere hat die Antragsgegnerin nicht konkret vorgetragen, dass und weshalb im Falle des Antragstellers die Gefahr der Obdachlosigkeit und Nichterreichbarkeit nun nicht mehr besteht.

Hinzutreten weitere besondere Umstände des Einzelfalles. Der Antragsteller hat wiederholt vorgetragen, noch minderjährig zu sein. Er hat hierzu eine Geburtsurkunde vorgelegt. Zudem lebt er seit Oktober 2011 (wieder) in einer Einrichtung der Jugendhilfe, wenn auch aufgrund von § 41 SGB VIII. Diese Einrichtung bescheinigt mit Schreiben vom 7. Januar 2012, dass der Antragsteller einen kindlichen Eindruck macht. Ob daher die vom RoMed-Klinikum Rosenheim am 3. November 2010 getroffene Altersbestimmung zutrifft, muss im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Die Jugendhilfeeinrichtung weist ferner in dem Schreiben vom 7. Januar 2012 auf den schlechten psychischen Zustand des Antragstellers hin. Nicht zuletzt hat der möglicherweise noch minderjährige Antragsteller in Hamburg nahe Verwandte.

Die Gefährdungen aufgrund einer möglichen erneuten Obdachlosigkeit in dem derzeitigen Zustand des Antragstellers und bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen sowie dessen mögliche Nichterreichbarkeit wiegen erheblich schwerer, als die Nachteile, die der Antragsgegnerin entstehen, wenn der Antragsteller in der Hauptsache letztlich unterliegt. Das Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 3 UA 1 bzw. Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO aufgrund der vorliegend angeordneten aufschiebenden Wirkung erst sechs Monate nach Entscheidung über die Klage VG 33 K 48.11 A enden wird (vgl. VGH Hessen, Beschluss vom 23.8.2011, 2 A 1863/10 ZA). [...]