VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 24.01.2012 - 14 K 4279/10.A - asyl.net: M19403
https://www.asyl.net/rsdb/M19403
Leitsatz:

Der in der Provinz Kunar in Afghanistan stattfindende innerstaatliche Konflikt weist ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt mit einer so hohen Gefahrendichte für die dortige Zivilbevölkerung auf, dass Rückkehrer auch ohne gefahrerhöhende Umstände tatsächlich Gefahr liefen, dort als Zivilpersonen einer ernsthaften Bedrohung an Leib oder Leben ausgesetzt zu sein.

Schlagwörter: Afghanistan, Kunar, Taliban, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, interner Schutz
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bs. c), RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Das im Übrigen aufrechterhaltene Verpflichtungsbegehren auf Feststellung des unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist zulässig und begründet. [...]

Bei der Prüfung, ob eine "erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben" i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. eine entsprechende "ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt" i.S.v. Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie vorliegt, ist zu berücksichtigen, dass sich auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Personen ausgeht, die nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 der Qualifikationsrichtlinie allein nicht ausreichend ist, individuell so verdichten kann, dass sie die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie erfüllt (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, a.a.O.).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Bundesverwaltungsgerichts kann eine solche individuelle Verdichtung ausnahmsweise dann angenommen werde, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie ausgesetzt zu sein. Eine derartige Verdichtung bzw. Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann aber unabhängig davon ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Ausländers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehrt. Bei der Ermittlung des erforderlichen Niveaus willkürlicher Gewalt i.S.v. Art 15 Buchst. c Qualifikationsrichtlinie in einem bestimmten Gebiet sind nicht nur solche Gewaltakte der Konfliktparteien zu berücksichtigen, die gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts verstoßen, sondern auch andere Gewaltakte der Konfliktparteien, durch die Leib oder Leben von Zivilpersonen wahllos und unbeachtet ihrer persönlichen Situation verletzt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07 - Elgafaji, NVwZ 2009, 705; BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -,a.a.O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht für die Klägerin bezogen auf ihre Herkunftsregion in Afghanistan eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Vor dieser Gefahr kann die Klägerin auch in anderen Teilen von Afghanistan keinen internen Schutz gemäß Art. 8 Qualifikationsrichtlinie finden.

Die Klägerin stammt nach ihren Angaben aus einem Ort im Distrikt Wata Pur in der im östlichen Teil von Afghanistan gelegenen Provinz Kunar. Dort hat sie bis zu ihrer Ausreise gelebt. Hinsichtlich der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist somit auf diese Region abzustellen, weil die Klägerin in erster Linie dorthin zurückkehren wird.

Die ostafghanische Provinz Kunar, die etwa zu 95 % von Paschtunen besiedelt ist, grenzt unmittelbar auf einer Länge von über 175 km an Pakistan. Sie hat eine Fläche von rund 4.942 qkm und rund 413.008 Einwohner. Die Bevölkerungsdichte liegt etwa bei 84,4 Einwohnern pro qkm. Im Distrikt Wata Pur, der Teil der Sektion um die Provinzhauptstadt Asadabad ist, leben rund 28.778 Einwohner.

Nach den der Kammer vorliegenden Auskünften und allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass in der Herkunftsregion der Klägerin in der Provinz Kunar ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im vorgenannten Sinn stattfindet. Die ausgewerteten Quellen berichten übereinstimmend, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan nach dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 und einer anfänglichen Stabilisierung in den Jahren 2001-2005 seit 2006 stetig verschlechtert hat. Sie ist jedoch durch große regionale wie saisonale Unterschiede geprägt. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 09. Februar 2011, Stand: Februar 2011 (Lagebericht) ist seit 2006 unter anderem aufgrund verstärkter militärischer Aktionen der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte eine stete Zunahme sicherheitsrelevanter Vorfälle zu beobachten. United Nations Mission in Afghanistan (UNAMA) verzeichnet, dass im ersten Halbjahr 2010 die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 31 % angestiegen ist. Für den Anstieg verantwortlich sind insbesondere regierungsfeindliche Kräfte (+ 53 %), während bei Pro-Regierungskräften ein Rückgang von 30 % zu verzeichnen ist. Während im Südwesten, Süden und Südosten des Landes die Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind dies im Norden und Westen häufig Rivalitäten lokaler Machthaber, die in Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt sind.

Zu einer entsprechenden Bewertung gelangt der Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von Dezember 2010. Danach ist die Bedrohung in Afghanistan weiterhin erheblich. Die Zahl der Zwischenfälle nahm in den ersten drei Quartalen 2010 im Verhältnis zum Vorjahr landesweit um 95 % zu. Die seit Jahren erkennbare Zweiteilung der Sicherheitslage in einen verhältnismäßig ruhigeren Norden und Westen und einen deutlich unruhigeren Süden, Südwesten und Osten des Landes (etwa 90 % der Zwischenfälle) gilt weiterhin. [...]

Angesichts dieser übereinstimmenden Beurteilungen weist der in der Provinz Kunar stattfindende innerstaatliche Konflikt unter Zugrundelegung der vorgenannten Kriterien zur Überzeugung des Gerichts ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt mit einer so hohen Gefahrendichte für die dortige Zivilbevölkerung auf, dass die Klägerin auch ohne gefahrerhöhende Umstände in ihrer Person im Falle einer Rückkehr tatsächlich Gefahr liefe, dort allein als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung an Leib oder Leben ausgesetzt zu sein.

Diese Einschätzung belegen auch die vorliegenden Zahlen über die Häufigkeit sicherheitsrelevanter Zwischenfälle und die Anzahl der zivilen Opfer in Bezug auf die Provinz Kunar. Nach dem Bericht der D-A-CH Kooperation vom März 2011 ereigneten sich in der Provinz Kunar 1.457 Angriffe, die von Regierungsgegnern ausgeführt wurden (AOG - Armed Opposition Groups - Initiated Attacks). Kunar war damit neben den Provinzen Ghazni (1.540 Angriffe), Helmand (1.387 Angriffe) und Kandahar (1.162 Angriffe) eine der Provinzen, in der sich die meisten Angriffe der regierungsfeindlichen Gruppen ereigneten. Im Einzelnen handele es sich dabei um direkten und indirekten Beschuss, Hinterhalte, Überfälle, Entführungen, gezielte Tötungen, Selbstmordanschläge oder Sprengfallen an Straßen. Für das erste Halbjahr 2011 werden bei ANSO (Quaterly Data Report Q.2 2011) 677 AOG Attacks für die Provinz Kunar vermerkt. Dies ist landesweit hinter Helmand (1430), Ghazni (743), Kandahar (724) wiederum eine der höchsten Zahlen von derartigen Angriffen. Gegenüber dem 1. Halbjahr 2009 bedeutet dies eine Steigerung um 12 %. Die Angriffe finden in nahezu allen Distrikten der Provinz Kunar statt, vor allem in Manogai, Sar Kani, Wata Pur (der Herkunftsregion der Klägerin), Asadabad, Narang Sarwai, Bar Kunar, Ghaziabad und Khas Kunar. Bezogen auf eine Gesamteinwohnerzahl von Kunar mit etwa 400.000 Einwohnern bedeutet das für 2010 eine Anschlagsdichte von ca. 364 Anschlägen pro 100.000 Einwohner, also von rund 0,4 %. Hinzu kommen laut der Dokumentation von D-A-CH die Aktionen der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte, deren Zahl aufgrund der starken Präsenz dieser Kräfte in der Unruheprovinz Kunar erheblich ist. Angesichts dessen ist die Wahrscheinlichkeit, als Zivilist in Kunar einer dieser Angriffe der regierungs-feindlichen Gruppierungen oder militärischen Aktionen zu werden, nicht mehr als unbedeutend anzusehen. Wegen der Häufigkeit der täglichen Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen stuft ANSO die Provinz Kunar als "extremely insecure" (äußerst unsicher) ein.

Für die Provinz Kunar selbst sind konkrete Opferzahlen den Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. UNAMA hat für die Ostregion, zu der neben Kunar auch die Provinzen Laghman, Nangahar und Nuristan gerechnet werden, im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt für das Jahr 2009 252 zivile Tote und für das Jahr 2010 243 zivile Tote ermittelt. Eine Angabe hinsichtlich der Zahl der Verletzten ist nicht verfügbar. Ausgehend von den von UNAMA ermittelten Zahlen für Gesamtafghanistan dürfte das Verhältnis von Toten und Verletzten annäherungsweise bei 1:2,6 liegen (vgl. BayVGH, Urteil vom 08. Dezember 2011 - 13a B 11.30276 -, Juris). Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass ausweislich des ANSO Reports Q.2 2011 von den insgesamt 1115 AOG Attacks für das erste Halbjahr 2011 in den genannten Provinzen der Ostregion allein mehr als 60 % auf die Provinz Kunar entfallen, so dass dort auch eine entsprechend hoher Anteil an Opfern (Tote und Verletzte) zu beklagen sein dürfte. Nimmt man das Verhältnis von 60 zu 40 als groben Anhaltspunkt, dürften für Kunar annährungsweise für das Jahr 2010 mehr als 150 zivile Tote und mehr als 380 zivile Verletzte aufgrund des bewaffneten Konflikt zu verzeichnen sein. Bezogen auf die Zahl der Gesamtbevölkerung von Kunar ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines willkürlichen Anschlags zu werden, mithin nicht mehr in einem zu vernachlässigendem Bereich anzusiedeln.

Hiervon ausgehend steht für das Gericht unter Berücksichtigung der Größe und Einwohnerzahl der Provinz Kunar einerseits und der extrem hohen Anschlagsdichte und der Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten (deren Dunkelziffer nach der Schilderung des Gutachters Dr. Danesch im Verfahren des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 25. August 2011 - 8 A 1659/10.A -) deutlich höher ist als die von den von unabhängigen Organisationen abgegebenen Zahlen) bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Gesichtspunkte der dortigen Sicherheitslage fest, dass der Konflikt in der Provinz Kunar eine so hohe Gefahrendichte willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung erreicht, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region jederzeit mit einer nicht mehr zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. [...]

Der Klägerin kann schließlich nicht gemäß § 60 Abs. 11 i.V.m. Art. 8 Qualitätsrichtlinie auf einen internen Schutz in einem anderen Teil ihres Herkunftslandes Afghanistan verwiesen werden. [...]

Für die Klägerin steht eine solche zumutbare interne Fluchtalternative landesweit und insbesondere auch im Großraum der Hauptstadt Kabul nicht zur Verfügung. Sie ist nach eigenen Angaben alleinstehend und würde außerhalb des Familienverbandes zurückkehren. Es ist aufgrund der bestehenden Verhältnisse in Afghanistan davon auszugehen, dass es der Klägerin angesichts der dortigen gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierung von alleinstehenden Frauen nicht möglich ist, in Afghanistan eine hinreichende Existenzgrundlage zu finden (vgl. hierzu: AA, Lagebericht vom 9. Februar 2011, S. 23 ff.; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 8. Juli 2004; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 24. Januar 2004; UNHCR, Update an the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005, S. 61; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender (zusammenfassende Übersetzung), 24. März 2011, S. 7 ff; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Alleinstehende Frau mit Kindern, 15. Dezember 2011, S. 3; Hessischer VGH, Urteil vom 1. März 2006 - 8 UE 3766/04.A -; VG München, Urteile vom 24. November 2009 - M 23 K 09.50113 - und vom 23. Dezember 2009 - M 23 K 09.50039 -, beide Juris. Vgl. zu alledem VG Köln, Urteile vom 9.4.2008 - 14 K 4466/05.A - und vom 25.11.2008 - 14 K 4274/06.A -, beide Juris sowie Urteil vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -). [...]