OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - asyl.net: M19406
https://www.asyl.net/rsdb/M19406
Leitsatz:

Unvorverfolgt ausgereisten Personen, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, droht bei einer Rückkehr nach Syrien angesichts der verschlimmerten Lage die Gefahr von Folter im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG.

Schlagwörter: Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, konkrete Gefahr, Verhör, zurückkehrende Asylbewerber, Antragstellung als Asylgrund, Syrien, Auslandsaufenthalt, Asylantrag
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet festzustellen, dass in Bezug auf den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegt, und die Abschiebungsandrohung aufgehoben.

Allerdings ergibt sich aus den vereinzelten Fällen der Inhaftierung von Rückkehrern vor Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen eine solche Gefahr nicht. Zwar war es - wie die Beklagte Im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten, wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage In der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 16).

Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten (zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 -14 A 1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung).

Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt würden (Amnesty International: End human rights violations In Syria, Amnesty International Submission to the UN Universal Perlodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6).

Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Ge-wehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt (Amesty International, Deadly Detention, Deaths in custady amid polpular protest in Syria, August 2011, S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode).

Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März 2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen In Kauf genommen hat. Das Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um Ihr physisches - Überleben.

Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland - bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat - wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien (vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6).

Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie geheimdienstlich ausspäht (vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s. auch die kürzlich erfolgte Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2).

Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung für die Stabilität des Regimes aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010, S. 7).

Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen Exilgemeinde (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzberlcht 2010, S. 358) realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr eines Verhörs unter Folter könne bei der erforderlichen Anwendung der für eine Gruppenverfolgung anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, greift zu kurz. Richtig ist, dass in dem vorliegenden Fall eines nicht vorverfolgt ausgereisten Asylbewerbers ohne in seiner Person begründete gefahrerhöhende Merkmale auch für die Feststellung eines Abschiebungsschutzanspruchs nach § 60 Abs. 2 AufenthG die Anlegung der Maßstäbe der Verfolgungsdichte bei einer asylrechtlichen Gruppenverfolgung angezeigt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, www.bundesverwaltungsgericht.de, Rn. 35, für Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts)).

Das heißt für die Gefahr der Folter, dass die hier in Rede stehende Personengruppe der aus Deutschland zurückkehrenden Asylbewerber von einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen der genannten Art betroffen sein muss, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Eingriffshandlungen müssen vielmehr auf alle Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. zur Verfolgungsdichte bei Gruppenverfolgung BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 -, www.bundesverwaltungsgericht.de, Rn. 20.

Genau dies bejaht der Senat. Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit.

Die Beklagte verkennt, dass es hier nicht um die Frage der Kriterien bei der Gefahrendichte, sondern um die Würdigung der Tatsachen unter Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten geht. Wenn Asylbewerber abgeschoben würden, wäre in der Tat die Häufigkeit des Verhörs unter Folter nach diesen Kriterien festzustellen. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die offen zutage liegende Gefahrerhöhung die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministerium des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen, einem Rat, dem die Bundesländer auch gefolgt sind. Weitere Erkenntnismöglichkeiten zur Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte nicht, wie sie in ihrem Schriftsatz vom 20. Dezember 2011 einräumt. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 2. November 2011, GZ 508-516.80/47062, S. 2).

Auch der Senat sieht keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten. Die genannte Gefahrendichte ist also nicht etwa mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen Behörden - aus gutem Grund - Abschiebungen zur Zeit nicht wagen. Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen zu würdigen, ob die genannte Gefahrendichte besteht.

Schließlich kann die beachtliche Wahrscheinlichkeit für rückkehrende Asylbewerber, einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, nicht deshalb verneint werden, weil sie durch freiwillige Rückkehr statt einer Abschiebung diese Gefahr abwenden könnten, wie die Beklagte in den Raum stellt (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerwG, Beschluss vom 21. Februar 2006 - 1 B 107.05 -, www.bundesverwaltungsgericht.de, Rn. 4).

Es ist nicht erkennbar, warum die Gefahr eines Verhörs unter Folter bei zwangsweiser Rückführung eine höhere sein soll als bei freiwilliger Rückkehr; das Informationsinteresse der syrischen Behörden bleibt gleich. Sollte die Beklagte meinen, der Kläger solle das Land, aus dem er zurückkehrt, oder den Grund des Aufenthalts dort verschleiern, kann ihm dies angesichts der sicher drohenden Folter bei Aufdeckung von Lügen nicht zugemutet werden. Auch eine Einreise ohne Passieren eines Grenzkontrollpunktes kann ihm nicht zugemutet werden.

Angesichts der zur Zeit herrschenden bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse setzt sich ein über die Grenze nach Syrien Einsickernder zwangsläufig dem Verdacht aus, zu den Aufständischen zu gehören.

Ist dem Kläger somit Abschiebungsschutz zu gewähren, ist die Abschiebungsandrohung unter Nr. 4 des angefochtenen Bescheides rechtswidrig und verletzt den Kläger In seinen Rechten, so dass sie das Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben hat (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]