BlueSky

VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 08.12.2011 - 13a B 11.30276 - asyl.net: M19434
https://www.asyl.net/rsdb/M19434
Leitsatz:

Für einen Angehörigen der Hazara aus der Provinz Ghazni (Südwesten Afghanistans) liegen die Voraussetzungen bezüglich eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Hinblick auf ernsthafte, individuelle Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit im Sinn von Art. 15 c Qualifikationsrichtlinie nicht vor.

Schlagwörter: internationaler bewaffneter Konflikt, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Qarabagh, Ghazni, Afghanistan
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bs. c), Hazara, willkürliche Gewalt, Gefahrendichte
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Auch sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG liegen nicht vor. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insgesamt rechtmäßig.

Die vom Kläger geltend gemachten Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind nicht gegeben. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2008 (BVerwGE 131, 198 = NVwZ 2008, 1241) dient das durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) neu in das Aufenthaltsgesetz eingefügte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG der Umsetzung der Regelung über den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst, c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie). Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG setzt - wie die umgesetzte Vorschrift des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie - einen internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt voraus. Erst wenn Konflikte eine solche Qualität erreicht haben, wird danach ein Schutzbedürfnis für die betroffenen Zivilpersonen anerkannt. [...]

Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten im Sinn von Art. 1 Nr. 2 ZP II, als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II oder jedenfalls als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Senats der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG vom 14.7.2009, BVerwGE 134, 188 = NVwZ 2010, 196). Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG vom 27.4.2010, BVerwGE 136, 377 = NVwZ 2011, 51).

Der Kläger stammt nach seinen Angaben aus dem Ort (nach Wikipedia) im Distrikt Qarabagh der südwestlich von Kabul liegenden Provinz Ghazni. Dort hat er nach seinen Angaben bis ca. April 2010 gewohnt. Die Provinz Ghazni hat ca. 1,1 Millionen Einwohner, wobei im Distrikt Qarabagh rund 132.000 Einwohner leben (D-A-CH Kooperation Deutschland - Österreich - Schweiz, Sicherheitslage in Afghanistan, Vergleich Ghazni, Nangarhar und pakistanische Stammesgebiete, März 2011, S. 4). Nach dieser Dokumentation war Ghazni im Jahr 2010 mit 1.540 Angriffen Aufständischer die Provinz, in der sich die meisten Angriffe ereigneten. Im Jahre 2009 habe es 461 Angriffe gegeben. Der prozentuale Anstieg betrage damit 234 %, während er landesweit nur bei 64 % liege. Die Sicherheitslage variiere von Distrikt zu Distrikt. Als unsicher müsse u.a. der Distrikt Qarabagh gelten. Dieser sei auch von der ISAF (International Security Assistance Force - Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe) zu einem Schlüsseldistrikt erklärt worden. Deren Sicherheitslage werde als besonders wichtig für die weitere Entwicklung in Afghanistan angesehen. In Qarabagh komme es häufiger zu Angriffen und Anschlägen. Auch gebe es Berichte über dortige gezielte Tötungen und Entführungen von Zivilisten. Eine Einschätzung der Gefährdung für Zivilpersonen in der Provinz sei schwierig zu treffen, da keine aufgeschlüsselten Angaben zu Opferzahlen vorlägen. [...]

Für Ghazni, der Herkunftsprovinz des Klägers sind keine Opferzahlen verfügbar. Auch der UNHCR (in seiner Stellungnahme vom 11.11.2011 an das OVG Rheinland- Pfalz) hat insoweit keine Erkenntnisse. Allerdings verzeichnet The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) die Angriffe Aufständischer in Afghanistan, aufgeteilt nach Provinzen. Wie auch in der Dokumentation von D-A-CH vom März 2011 (a.a.O.) ausgeführt, ist für das Jahr 2010 von 1.540 Angriffen auszugehen, die von Regierungsgegnern ausgeführt wurden (AOG - Armed Opposition Groups - Initiated Attacks). Im Einzelnen habe es sich um direkten und indirekten Beschuss, um Hinterhalte, Überfälle, gezielte Tötungen, Selbstmordanschläge oder Sprengfallen an Straßen gehandelt (D-A-CH vom März 2011, a.a.O., S. 8). Inwieweit es bei den Anschlägen zu Toten und Verletzten gekommen ist, ergibt sich aus dem jeweiligen Report nicht. Landesweit wurden allerdings von UNAMA im Jahr 2009 rund 6.200 Tote und Verletzte, im Jahr 2010 7.120 Tote und Verletzte und im ersten Halbjahr 2011 3.606 Tote und Verletzte festgestellt. Demgegenüber betrug die Zahl der Angriffe im Jahr 2009 nach ANSO 8.031, im Jahr 2010 12.929 und im ersten Halbjahr 2011 7.368. Es lässt sich damit feststellen, dass ein von ANSO gezählter Anschlag nicht immer zu Toten und Verletzten geführt hat. Bezogen auf die Einwohnerzahl von Ghazni mit rund 1,1 Millionen ergibt sich nach den von ANSO gezählten 1.540 Anschlägen für 2010 dort eine Anschlagsdichte von 140 Anschlägen pro 100.000 Einwohner. Für das erste Halbjahr 2011 sind bei ANSO für die Provinz Ghazni 743 "Attacks" genannt (ANSO Quarterly Data Report Q.2 2011 - 1.1.-30.6.2011), was gegenüber der Zahl des Jahres 2009 (mit 461 Anschlägen) eine Mehrung auf 175 % bedeute. Eine Zunahme gegenüber 2010 ergibt sich dadurch allerdings nicht. Bei hochgerechnet rund 1500 "Attacks" ist die Anschlagsdichte gegenüber 2010 (mit 1540 Angriffen) im Wesentlichen - auch hier im Promillebereich - unverändert.

Wie bereits ausgeführt, variiert die Sicherheitslage jedoch teilweise auch innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt. Für den in der Provinz Ghazni liegenden Herkunftsdistrikt des Klägers Qarabagh sind weder Opfer- noch Anschlagszahlen verfügbar. Nach D-A-CH (vom März 2011, a.a.O., S. 8) muss der Distrikt jedoch als unsicher angesehen werden. Dort komme es häufiger zu Angriffen und Anschlägen (DA-CH, S. 10). Der UNHCR (vom 11.11.2011, a.a.O., S. 5 f.) schätzt in Teilen der Provinz Ghazni auf Grund der hohen Zahl von zivilen Todesopfern, der Häufigkeit sicherheitsrelevanter Zwischenfälle und der Anzahl von Personen, die auf Grund des bewaffneten Konflikts vertrieben wurden, "die Lage als eine Situation allgemeiner Gewalt ein". Allerdings sei die Sicherheitslage in den Distrikten, in welchen die Hazara die Mehrheit oder eine bedeutende Minderheit darstellen, vergleichsweise stabil. Zwar nennt der UNHCR in diesem Zusammenhang nicht den Distrikt Qarabagh. Der Anteil der Hazara dort beträgt jedoch rund 44 % gegenüber 54 % Paschtunen (Wikipedia; nach der Stellungnahme Dr. Karin Lutze vom 8.6.2011 an das OVG Rheinland-Pfalz zum Verfahren 6 A 11048/10.OVG, S. 14, sind in der gesamten Provinz Ghazni mehr als 50 % der Einwohner Hazara). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof zudem ausgeführt, dass sein Herkunftsort ... ausschließlich aus Hazara bestehe. In der Nachbarschaft lebten allerdings auch Paschtunen. Damit ist der Schluss gerechtfertigt, dass sich die Situation in Qarabagh mit einem nicht unbedeutenden Hazara-Anteil nicht wesentlich von der in der gesamten Provinz Ghazni unterscheidet.

Wenngleich die von UNAMA bzw. ANSO ermittelten Zahlen nicht exakt sein können, weil die Listen der Vorfälle nicht unbedingt erschöpfend sind und in Einzelfällen nur schwer zwischen Terrorismus und Kriminalität unterschieden werden kann, so vermitteln sie jedenfalls eine realistische Basis, die eine verlässliche Risikoabschätzung ermöglicht. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eventuelle statistische Ungenauigkeiten selbst unter Berücksichtigung einer unzureichenden Schätzung für das 2. Halbjahr 2011 bei den Verletzten- und Totenzahlen die Größenordnung des Gefahrenpotentials in Frage stellen würde. Die proportionale Abschätzung zeigt, dass die Gefahrendichte im Promillebereich liegt. Im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung ist nicht davon auszugehen, dass praktisch jede Zivilperson schon alleine aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Dies gilt angesichts des festgestellten Risikos auch unter Einbeziehung der in Ghazni und im gesamten Land unzureichenden medizinischen Versorgungslage (Lagebericht, S. 29; vgl. BVerwG vom 17.11.2011, BVerwG 10 C 13.10).

Aus dem vom Kläger vorgelegten Bescheid des Bundesamts vom 11. August 2011 ergibt sich nicht anderes. Mit diesem wurde für einen ebenfalls aus dem Distrikt Qarabagh stammenden Asylbewerber ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG festgestellt, weil dort ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt bestehe und eine erhebliche individuelle Gefahr durch die bloße Anwesenheit nicht ausgeschlossen werden könne. Der Bescheid gibt im Wesentlichen die Formulierungen der bereits genannten Dokumentation von D-A-CH vom März 2011 (a.a.O.) wieder, ohne aber die in dem Distrikt lebenden Personen und die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen angemessen zu berücksichtigen und eine Gesamtbewertung vorzunehmen. Eine das Ermessen der Beklagten bindende Wirkung kommt dem Bescheid bereits deshalb nicht zu, weil es sich nach den Angaben des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 8. Dezember 2011 um eine von der Entscheidungspraxis des Bundesamts abweichende Einzelfallentscheidung handelt.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr bei dem Kläger durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. Die Frage der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG stellt sich bei dessen Vorfluchtschicksal dabei nicht. Gefahrerhöhende Umstände ergeben sich nicht daraus, dass der Kläger der Minderheit der Hazara angehört. Nach dem Lagebericht (S. 19) hat sich die Situation der traditionell diskriminierten Hazara insgesamt verbessert, obwohl die hergebrachten Spannungen in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehen und auch immer wieder aufleben würden. Die Hazara seien in der öffentlichen Verwaltung zwar noch immer stark unterrepräsentiert, wobei dies aber eher eine Folge der früheren Marginalisierung zu sein scheine als eine gezielte Benachteiligung neueren Datums (Bundesasylamt der Republik Österreich, Die politische Partizipation der Minderheit der Hazara, 29.1.2010). Anhaltspunkte, dass der Kläger als Hazara in den Provinzen Ghazni einer besonderen Gefahr unterliegen würde, sind nicht ersichtlich. Neben zahlreichen anderen Ethnien leben Hazara schon immer in dieser Provinz. Nach UNHCR (vom 11.11.2011 a.a.O., S. 8) kann eine Aussage, ob die Volksgruppe der Hazara in besonderer Weise von den konkreten Auswirkungen wahlloser Gewalt betroffen war, nicht getroffen werden. Aus räumlicher Sicht ergebe sich keine exponierte Gefährdungssituation. Allerdings komme es zu ethnisch motivierten Übergriffen gegen Hazara, so dass deren Zugang zum Schutz einer besonderen Prüfung bedürfe. Bereits ausgeführt wurde jedoch, dass in der Provinz Ghazni und im Distrikt Qarabagh rund 44 % der Bevölkerung Hazara sind. Angesichts dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Zugehörigkeit zum Volkstum der Hazara dort zu einem gefahrerhöhenden Umstand führen würde.

Bei der Gesamtschau der allgemeinen Risikoumstände, wie sie sich aus den Erkenntnismitteln ergeben, ist auch unter Berücksichtigung der individuellen Gefährdung nicht ersichtlich, dass sich die aufgezeigten Risiken beim Kläger in gefährlicher Weise kumulieren könnten. Schließlich führt auch ein Vergleich mit der aktuellen Rechtsprechung der anderen Verwaltungsgerichtshöfe bzw. Oberverwaltungsgerichte nicht zu einer anderen Einschätzung. Zwar hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit zwei Urteilen vom 25. August 2011 das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für aus der Provinz Logar (Az. 8 A 1657/10.A <juris>) sowie aus der - wie Ghazni - in der Südostregion liegenden Provinz Paktia (Az. 8 A 1659/10.A <juris>) stammende Kläger angenommen. Ob dabei die Vorgehensweise bei der Feststellung eines den bewaffneten Konflikts kennzeichnenden hohen Niveaus willkürlicher Gewalt bzw. einer hohen Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (z.B. BVerwG vom 27.4.2010, BVerwGE 136, 360) entspricht, kann dahinstehen, da das Gericht jeweils gefahrerhöhende persönliche Umstände angenommen hat. Neuere Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte in diesem Zusammenhang liegen nicht vor. [...]