VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 19.12.2011 - 5 A 352/10 - asyl.net: M19437
https://www.asyl.net/rsdb/M19437
Leitsatz:

1. Wohlhabende Afghanen sind keine soziale Gruppe im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, die sich von der übrigen Gesellschaft unterscheidet.

2. Einer Person, die, weil sie aus wohlhabend gilt, bereits einmal entführt worden ist, droht bei Rückkehr nach Afghanistan die konkrete Gefahr, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden.

Schlagwörter: Afghanistan, wohlhabend, Wohlstand, soziale Gruppe, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Entführung, Lösegeld, Lösegelderpressung, Großgrundbesitzer
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt wurden. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Diese Verfolgung kann ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Zwar machen die Kläger geltend, sie seien wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden. Die Kläger können sich jedoch nicht darauf berufen, dass sie als "wohlhabende Afghanen" Angehörige einer sozialen Gruppe sind. Eine bestimmte soziale Gruppe ist eine Gruppe von Personen, die neben ihrem Verfolgungsrisiko ein weiteres gemeinsames Merkmal aufweisen oder von der Gesellschaft als Gruppe wahrgenommen werden. Das Merkmal ist oft angeboren und muss unabänderlich oder in anderer Hinsicht prägend für die Identität, das Bewusstsein oder die Ausübung der Menschenrechte sein (vgl. Treiber in GK-AufenthG, § 60, Rn.173). Ein solches gemeinsames Merkmal vermag die Kammer jedenfalls bei den Klägern daraus, dass sie in Afghanistan wohlhabend waren, nicht abzuleiten. Ihr Wohlstand war weder unabänderlich oder in sonstiger Hinsicht prägend für ihre Identität. Vielmehr hat insbesondere der Kläger zu 1) durch den Betrieb unterschiedlicher Firmen es nach eigenen Angaben zu Wohlstand gebracht. Soweit die Kläger meinen, darauf verweisen zu müssen, dass auch die sogenannten Junker und Großgrundbesitzer in kommunistischen Staaten als soziale Gruppe angesehen wurden, ist der Status der Kläger in Afghanistan, wie sie ihn beschrieben haben, damit nicht zu vergleichen. Sogenannte Junker und Großgrundbesitzer waren Familien, die über Generationen hinweg über Grundeigentum und einem daraus - möglicherweise - resultierenden Wohlstand verfügten. Bei den Klägern war es jedoch offenkundig so, dass sich der Wohlstand aus der unternehmerischen Tätigkeit des Klägers zu 1) speiste.

Im Übrigen wird auch in Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d Satz 1 der EU-Qualifikationsrichtlinie ausgeführt, eine Gruppe gelte insbesondere als soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben. Dies ist ersichtlich bei den Klägern allein aufgrund ihres finanziellen Wohlstandes nicht der Fall gewesen.

Aus dem oben Ausgeführten ergibt sich auch, dass die angeregte Vorlage der unter Ziffer 1 des Schriftsatzes des Prozessbevollmächtigten vom 16.12.2011 gestellten Frage an den Europäischen Gerichtshof nicht erforderlich ist.

Bei den Klägern liegen aber zur Überzeugung der Kammer Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 2 des AufenthG vor.

Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt (Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09, NVwZ 2011, 51, BVerwGE 136, 377):

"Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM (2001) 510 endgültig S. 6, 30). [...]

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 <Rn. 88>; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 <Rn. BO ff.> und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. <Rn. 127, 137 ff.>). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signalarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention."

Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an. Eine staatliche Zurechenbarkeit der Verfolgungshandlungen ist im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG nicht erforderlich (Hailbronner, § 60 AufenthG, Rn. 125).

Die Kammer ist aufgrund des glaubwürdigen Vorbringens der Kläger in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass ihnen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland die konkrete Gefahr besteht, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden. Die Kammer glaubt dem Kläger zu 1), dass er in Herat entführt wurde, weil er als wohlhabend galt. Die gesamte Familie war von dieser Entführung betroffen. In ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung war zu erkennen, dass sowohl die anwesende Klägerin zu 2) als auch die Klägerin des Verfahrens 5 A 353/10 immer noch psychisch durch die damals stattgefundenen Ereignisse stark belastet sind. Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass die glaubhaft vom Kläger zu 1) geschilderte Todesangst seiner Inhaftierung in einem dunklen Kellerloch, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellt. Unabhängig davon, dass auch die weiteren Familienmitglieder bei dem Überfall in einer entsprechenden Art und Weise behandelt wurden, ist es zur Überzeugung der Kammer auch so, dass auch die weiteren Familienmitglieder eine entsprechende erniedrigende Behandlung bei einer Rückkehr zu befürchten hätten, da jedes Familienmitglied eine entsprechende Entführungsgefahr und die damit verbundene Lösegelderpressung treffen könnte.

Wie bereits dargelegt, streitet bei den Klägern, die vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist sind, die Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird (BVerwG, a.a.O.). Diese Vermutung ist nicht durch "stichhaltige Gründe" widerlegt. Insbesondere können die Kläger zur Überzeugung der Kammer nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Sie stammen aus Herat, ihre gesamte Familie stammt von dort. Die Kammer vermag nicht zu erkennen, wie es den Klägern als eine Familie mit Kindern und einer 71 Jahre alten Großmutter möglich sein soll, abseits von ihren familiären Strukturen, die sich in Herat befinden, zurechtzukommen. [...]