VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 27.02.2012 - 1 B 48/12 - asyl.net: M19441
https://www.asyl.net/rsdb/M19441
Leitsatz:

Durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23.02.2012 (Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien), wonach Italien seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen nicht genügt, ist es geboten, eine Zurückschiebung nach Italien im Rahmen der Dublin II-Verordnung vorläufig zu untersagen, damit im Hauptsachenverfahren die Lage genauer beurteilt werden kann.

Schlagwörter: verfassungskonforme Anwendung, Italien, EGMR, Dublin II-VO, Dublinverfahren
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der in erster Linie nach § 80 Abs. 5 VwGO zur beurteilende Antrag ist zulässig und begründet. Der Zulässigkeit des Antrags steht § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen, obgleich diese Vorschrift darauf abzielt, den vorläufigen Rechtsschutz in Fällen wie dem vorliegenden auszuschließen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, B. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, B. v. 13.11.2009 - 2 BvR 2603/09 -; B. v. 08.12.2009 - 2 BvR 2780/09 -; B. v. 10.12.2009 - 2 BvR 2767/09 -; B. v. 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, jew. zitiert nach juris) und nicht zuletzt mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21.12.1011 (C-411/10 und andere, juris) muss davon jedoch im Wege verfassungskonformer Anwendung eine Ausnahme jedenfalls dann gemacht werden, wenn andernfalls für den Betroffenen kraft höherrangigen Rechts nicht zumutbare Nachteile entstünden, die schwerer wögen, als die mit einem vorläufigen Abschiehungsverbot einhergehenden Nachteile für die Bundesrepublik Deutschland. Das ist hier der Fall.

Die Frage, ob Italien seinen rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen genügt, ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach wie vor streitig und wird von vielen Verwaltungsgerichten auch angesichts der jüngsten Auskunftslage bejaht (vgl. etwa VG Freiburg, B. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 -; VG Magdeburg, U. v. 21.11.2011 - 9 A 100/11 -; VG Gießen, B. v. 16.03.2011 - 1 L 198/11.GI.A ; VG Hannover, B. v. 12.05.2011 - 1 B 1818/11 -; VG Arnsberg, B. v. 18.03.2011 - 8 L 92/11.A -; VG Frankfurt am Main, B. v. 07.03.2011 - 7 L 449/11.F A -; a.A. etwa Frankfurt/Oder, B. v. 13.02.2012 - VG 3 L 209/11.A -; VG Bremen, B. v. 24.01.2012 - 6 V 1549/11 A -, jew. m. w. Nw., zit. nach juris). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 23.02.2012 in der Sache Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Az.: 27765/09) erst jüngst entschieden, dass Italien seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen nicht genügt hat. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass eine Stellungnahme des UNHCR zu Italien in den nächsten Tagen oder Wochen erwartet wird, muss es einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, ob der angefochtene Bescheid Bestand haben kann. Nur im Hauptsacheverfahren kann auch den Argumenten der Antragsgegnerin nachgegangen werden, Italien sei nach wie vor ein sicherer Drittstaat. Allein die offensichtliche Notwendigkeit zu weiteren Ermittlungen gebietet es, im Rahmen einer umfassenden Abwägung die Interessen der Antragsteller höher zu bewerten, als diejenigen der Antragsgegnerin.

Die auf § 123 Abs. 1 VwGO gestützte Anordnung ist daneben geboten, um verbindlich sicherzustellen, dass die für den morgigen Tag geplante Abschiebung der Antragsteller nach Italien vorläufig nicht durchgeführt wird. [...]