VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 20.12.2011 - 2 K 20200/10 Me - asyl.net: M19463
https://www.asyl.net/rsdb/M19463
Leitsatz:

Für einen vietnamesischen Staatsangehörigen, der mit deutlich mehr als einem Kilo Heroin gehandelt hat, kommt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung in Vietnam mit der Todesstrafe in Betracht, auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde und dort bereits geahndet wurde.

Schlagwörter: Vietnam, Asylfolgeantrag, Drogendelikt, Heroin, Todesstrafe, ne bis idem, Doppelverfolgung, Doppelbestraftung, Abschiebungshindernis
Normen: VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und hinsichtlich eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 3 AufenthG bezogen auf Vietnam begründet.

Allerdings hat die Beklagte zu Recht festgestellt, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG für den Folgeantrag vorliegend nicht erfüllt sind, da der Kläger den Folgeantrag nicht innerhalb von 3 Monaten, nachdem ihm der Wiederaufgreifensgrund bekannt geworden war, gestellt hat. [...]

Liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG aber nicht vor, hat das Bundesamt gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zu § 53 AuslG zurückgenommen oder widerrufen wird. § 71 Abs. 1 und 3 AsylVfG, der für Asylfolgeanträge die Möglichkeit einer solchen Ermessensentscheidung ausschließt, ist weder unmittelbar noch entsprechend auf Anträge zur Feststellung von Abschiebungsverboten anzuwenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.03.2000, BVerwGE 101, 77; OVG Lüneburg, Urteil vom 28.06.2011, Az.: 8 LB 221/09, Juris). Hat die Behörde nach § 51 Abs. 5 VwVfG eine Ermessensentscheidung zu treffen, ist ihr Ermessen allerdings dann auf Null reduziert, wenn der Ausländer neben dem Vorliegen eines Abschiebungsverbotes einer tatsächlichen extremen, individuellen Gefahrensituation ausgesetzt ist (OVG Lüneburg, a.a.O.).

Insofern hat das Bundesamt zu Recht geprüft, ob von Amts wegen das Verfahren wieder aufzugreifen ist. Im Gegensatz zur Auffassung des Bundesamtes liegen aber die Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 AufenthG vor. Der Kläger wird nämlich in Vietnam wegen einer Straftat gesucht und es droht ihm die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe.

Für einen vietnamesischen Staatsangehörigen, der mit deutlich mehr als einem Kilo Heroin gehandelt hat, kommt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung in Vietnam mit der Todesstrafe in Betracht, auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde und dort bereits geahndet wurde.

Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, die Androhung der Todesstrafe im Falle des gewerbsmäßigen Handelns mit Betäubungsmitteln sei abgeschafft (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Sozialistischen Republik Vietnam vom 29.07.2010 III.3.) ist fehlerhaft. Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, droht Art. 194 des vietnamesischen Strafgesetzbuches (VStGB) beim Handel mit Rauschgiften oberhalb einer bestimmten Mengengrenze im Höchstmaß die Todesstrafe an. Dies gilt unter Anderem bei einem Handel mit Heroin mit einem Gewicht von 100 g und mehr. Auch das Auswärtige Amt geht in seiner Stellungnahme vom 18.05.2011 davon aus, dass im Falle der Herstellung oder des Handels mit Heroin ab 100 g die Verurteilung zum Tode in Betracht kommt.

Nach Art. 6 Abs. 1 VStGB können vietnamesische Staatsbürger, die im Ausland gegen Bestimmungen des vietnamesischen StGB verstoßen haben, in Vietnam zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden, vgl. im Einzelnen: Gutachten des Dr. Gerhard Will vom 27.04.2011 und Gutachten des Prof. Dr. Oskar Weggel vom 07.10.2011. Prof. Weggel weist dazu darauf hin, dass eine Verjährung noch nicht eingetreten ist, da diese bei "sehr schweren Verbrechen", zu denen das Vorliegende mindestens gehört, erst nach 15 Jahren eintritt. Wertet man das Vergehen sogar als "ganz besonders schweres Verbrechen", verjährt dies erst nach 20 Jahren.

Die Gefahr einer erneuten Verurteilung des Klägers und zwar konkret zur Todesstrafe droht auch im Fall des Klägers, obwohl er diese Tat nicht nur in Deutschland begangen hat, sondern in Deutschland dafür auch bereits bestraft wurde.

Allerdings vertritt das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 18.05.2011 die Auffassung, eine neuerliche Bestrafung habe der Kläger nicht zu erwarten. Der Grundsatz "ne bis in idem" gelte auch in Vietnam. Eine positiv-rechtliche Ausprägung oder eine Norm finde sich zwar nicht, der Grundsatz gelte jedoch auch in Vietnam als fundamentaler Grundsatz eines fairen Strafprozesses. Dem entgegen hat aber die Deutsche Botschaft in Vietnam in einer anderen Sache unter dem 10.11.2010 (Stellungnahme gegenüber dem AA) für den Fall eines in Deutschland verurteilten Mörders ein erneutes Gerichtsverfahren und Verurteilung in der gleichen Straftat in Vietnam grundsätzlich für denkbar gehalten. Dort wird offensichtlich nicht von einer Geltung dieses Rechtsgrundsatzes ausgegangen. Soweit in dieser Stellungnahme darauf hingewiesen wird, dass eine Rückführung nur auf der Basis einer entsprechenden Vereinbarung mit der vietnamesischen Seite durchgeführt werden sollte, die die Anwendung der Todesstrafe ausschließe, ist dies im vorliegenden Verfahren unbeachtlich, da eine solche Vereinbarung nicht getroffen wurde.

Auch in der zweiten vom Gericht eingeholten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 19.09.2011 weist dieses darauf hin, dass eine diplomatische Zusicherung der vietnamesischen Seite eingeholt werden könne, nach der Strafverbüßung in Deutschland keine weitere Strafverfolgung aufzunehmen und insbesondere keine Todesstrafe zu verhängen. Es deckt sich auch mit den Erkenntnissen des erkennenden Gerichts, dass derartige internationale Verpflichtungen in Vietnam ernst genommen und beachtet werden. Eine solche liegt aber im Falle des Klägers nicht vor.

Dr. Will geht in seinem Gutachten davon aus, dass bei Drogendelikten, denen in Vietnam der entschiedene Kampf angesagt sei, es auch zu einer erneuten Verurteilung kommen werde. Dies gelte besonders, weil in den Augen der vietnamesischen Führung durch derartige im Ausland begangene Straftaten das Ansehen der vietnamesischen Nation und des vietnamesischen Staates nachhaltig geschädigt werde.

Auch Prof. Weggel hält es in seinem Gutachten für möglich, dass der Kläger mit dem Tode bestraft werden könnte. Von rechtsstaatlicher Berechenbarkeit könne nach seinem Gutachten keine Rede sein, da die Abwägung zwischen möglicher pädagogischer Läuterung des Täters und kriminalpolitischer Nichtbilligung einer Straftat zu Ergebnissen führe, die kaum voraussagbar seien. Dabei weist er darauf hin, dass Grundsätze wie Rechtskraft oder der Grundsatz "in dubio pro reo" dem überkommenen traditionellen vietnamesischen Verständnis fremd seien. Es entspreche vielmehr dem allgemein verbreiteten Rechtsverständnis, dass nicht die formelle, sondern die materielle Wahrheit von Bedeutung sei. Die Hauptaufgabe der Justiz bestehe darin, das Volk zu erziehen. Insofern sei es, wenn dies gelungen sei, nicht mehr nötig, einen zweiten Anlauf in der gleichen Sache zu unternehmen. Konterkariert würden solche sozialpolitischen Tendenzen allerdings durch kriminalpolitische Überlegungen. Rauschgiftdelikte gälten als eine Art "Krankheit zum Tod" und seien deshalb entsprechend schwer zu bestrafen.

Nach alledem kommt das Gericht im Ergebnis der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis, dass für die vom Kläger begangene Tat in Vietnam die Strafandrohung der Todesstrafe besteht und der Kläger durch seine bereits erfolgte Verurteilung zu einer Strafhaft, die er auch verbüßt hat, nicht vor einer erneuten Bestrafung durch die vietnamesische Justiz geschützt ist.

Die Voraussetzung einer "Suche" des Staates nach dem Kläger ist auch erfüllt, wenn sie erst nach der Abschiebung einsetzt und wegen Straftaten erfolgt, die ein Ausländer im Bundesgebiet begangen hat. Dies folgt aus dem humanitären Anliegen der Vorschrift, Ausländer nicht der Todesstrafe zu überliefern (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Rdnr. 137 zu § 60 AufenthG). Davon ist vorliegend auszugehen, da Vietnam wie ausgeführt die Todesstrafe für Delikte, wie sie vom Kläger begangen wurden, verhängt, auch wenn sie im Ausland begangen worden sind und eine Bestrafung bereits erfolgt ist.

Anderes würde nur gelten, wenn sichergestellt ist, dass die Abschiebung so ausgestaltet wird, dass der Zielstaat keine Kenntnis von der vorher in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Straftat erlangt (vgl. Hailbronner, a.a.O., m.w.N.). Zwar hat die Beklagte eine Stellungnahme des Bundespolizeipräsidiums vom 06.10.2011 vorgelegt, dass der vietnamesischen Seite lediglich mitgeteilt werde, dass es sich bei Abgeschobenen um Straftäter handelt, das Delikt aber ungenannt bleibe. Insoweit sei für die vietnamesische Seite nicht erkennbar, ob es sich überhaupt um ein Delikt handelt, das in Vietnam mit Strafe bedroht sei. Diese allgemeine Aussage genügt dem Gericht aber nicht, da nicht gewährleistet ist, dass der vietnamesische Staat sich nicht bei Straftätern aus anderen Quellen über Vorgänge in Deutschland im Zusammenhang mit abgeschobenen ehemaligen Asylbewerbern informiert. Im Zusammenhang mit der möglichen Verfolgung exilpolitischer Tätigkeiten ist bekannt, dass das Personal der vietnamesischen Botschaft zwar kapazitätsmäßig nicht in der Lage ist, eine Überwachung aller Aktivitäten von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Vietnamesen durchzuführen, dass sie aber z.B. bei positiver Kenntnis von exilpolitischer Tätigkeit durchaus entsprechende Überwachungsmaßnahmen durchführt.

Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten droht dem Kläger die Verurteilung zum Tode auch mit "beachtlicher Wahrscheinlichkeit".

Nach Inkrafttreten des Richtlinien-Umsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 ist nach § 60 Abs. 11 AufenthG (u.a.) in Fällen des Abs. 3 der Vorschrift ergänzend Art. 4 Abs. 4, 5 Abs. 1 und 2 und 6 bis 8 der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.04.2004, Amtsblatt der EG vom 30.09.2004, L 304/12 (sog. Qualifikationsrichtlinie) heranzuziehen. Entscheidend ist, ob bei zukunftsgerichteter Betrachtung genügend beachtliche Anknüpfungsmerkmale vorliegen, deretwegen eine Bedrohung aller Voraussicht nach in Zukunft nachvollziehbar und begründet erscheint.

Soweit ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden bereits erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist dies ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass eine erneute Verfolgung oder Bedrohung der genannten Art einsetzen kann (vgl. Art. 4 Abs. 4 Richtlinie). Diese Beweiserleichterung ist beim Kläger nicht anzuwenden, da er unverfolgt aus Vietnam ausgereist ist. In diesen Fällen hat der Antragsteller nur dann einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 3 AufenthG, wenn er bei seiner Rückkehr die Todesstrafe mit beachtlicher, d.h. also mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht dann, wenn die für die Verhängung der Todesstrafe sprechenden Gründe ein größeres Gewicht besitzen, als solche Umstände, die gegen eine Annahme sprechen. Diese Voraussetzung ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme erfüllt. Die Todesstrafe wird auf Delikte wie das vom Kläger begangene angewandt, unabhängig davon, ob er im Ausland schon bestraft worden ist. Die vom Kläger gehandelte Heroinmenge übertrifft diejenige, ab der die Todesstrafe einschlägig ist, um ein Vielfaches. Von der Möglichkeit, einen individuellen Strafverzicht mit Vietnam zu vereinbaren, hat die Beklagte keinen Gebrauch gemacht. [...]