VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 30.01.2012 - 11 K 2368/11 - asyl.net: M19475
https://www.asyl.net/rsdb/M19475
Leitsatz:

1. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist.

2. Ist der ordnungsrechtliche Zweck der Ausweisung erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitlich Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Befristung, Kindeswohl, Eltern-Kind-Verhältnis, Vater, Ermessensfehler
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch darauf, dass der Beklagte über seinen Antrag auf Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entscheidet.

Für die Prüfung des Befristungsanspruchs ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen; dies gilt auch, soweit - wie vorliegend - die Behörde bereits eine Ermessensentscheidung über die Dauer der Sperrfrist getroffen hat und es um deren Überprüfung geht (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.06.2009 - 1 C 11.08 - BVerwGE 134, 124; VGH Mannheim, Urt. v. 15.07.2009 - 13 S 2372/08 - NVwZ 2009, 1380 und Urt. v. 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429). Das Klagebegehren ist daher am Maßstab der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl I S. 2258) geänderten Fassung des § 11 Abs. 1 AufenthG zu beurteilen.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen von Ausweisung und/oder Abschiebung auf Antrag in der Regel zu befristen. Der Beklagte ist zu Recht von einem Regelfall i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgegangen, da weder im Hinblick auf das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten spezial- und/oder generalpräventiven Zwecken noch im Hinblick auf das Verhalten des Klägers nach der Ausweisung ein Ausnahmefall vorliegt (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 und Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140).

Hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Sperrwirkung und zu den Gesichtspunkten, die bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen sind, trifft das Gesetz nunmehr allgemeine Regelungen. Danach ist die Bemessung der Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Bei der Bemessung der Länge der Frist ist zudem zu berücksichtigen, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (§ 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die Dauer der Sperrwirkung hat die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 40 LVwVfG) zu bestimmen. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Grundes für die Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezial- und/oder generalpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkung tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243). Die im Rahmen des ersten Schritts von der Behörde zu treffende Gefahrenprognose ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - VBlBW 2009, 274). Da die Zweckerreichung die Fristobergrenze darstellt, ist es nicht länger gerechtfertigt, die Sperrwirkung aufrechtzuerhalten, wenn die ordnungsrechtlichen Zwecke sämtlich erreicht sind. Ist der Zweck erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitliche Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369; VGH Mannheim, Urt. v. 26.03.2003 - 11 S 59/03 - InfAuslR 2003, 333; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).

In einem zweiten Schritt muss sich die an der Erreichung des Zwecks der Ausweisung orientierende äußerste Frist an höherrangigem Recht, vor allem an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O.). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind sämtliche schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Haben beispielsweise familiäre Belange des Betroffenen nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O.). Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140; Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 ; Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 - a.a.O. und Urt. v. 13.04.2010 - 1 C 5.09 - BVerwGE 136, 284).

Nach diesen Grundsätzen leidet die vom Beklagten vorgenommene Befristung der Wirkungen der Ausweisung an Ermessensfehlern, die nicht nach § 114 Satz 2 VwGO geheilt worden sind.

Zwar hat das Regierungspräsidium Stuttgart in seiner Befristungsentscheidung berücksichtigt, dass der Kläger Vater eines am 10.03.2011 geborenen Kindes ist, das ein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU besitzt, er das gemeinsame Sorgerecht zusammen mit der polnischen Mutter ausübt und eine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Kind und der Lebensgefährtin besteht. Der Beklagte hat gleichwohl bei seiner Ermessensentscheidung im Hinblick auf die familiäre Situation des Klägers nicht alle wesentliche Gesichtspunkte berücksichtigt.

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - DVBl 2006, 247 und Beschl. v. 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - BVerfGK 14, 458; BVerwG, Urt. v. 20.02.2003 - 1 C 13.02 - BVerwGE 117, 380). Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Der Beklagte hat bei seiner Ermessensentscheidung aber versäumt, auf die maßgebliche Sicht des Kindes abzustellen; hierzu finden sich keinerlei Erwägungen. Außerdem fehlen Feststellungen zur Frage des Bestehens einer persönlichen Verbundenheit, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl gegebenenfalls angewiesen ist. Diesbezügliche Ermittlungen hat der Beklagte nicht angestellt. Das Regierungspräsidium Stuttgart hat weiter nicht berücksichtigt, dass bei sehr kleinen Kindern - der Sohn des Klägers ist gerade 10 Monate alt - schon eine nur kurzzeitige Trennung von einem Elternteil unverhältnismäßige Folgen zeitigen kann; ein Kleinkind kann den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen und erfährt diese rasch als endgültigen Verlust (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - NVwZ 2006, 682; Beschl. v. 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - a.a.O. und Beschl. v. 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 - NVwZ 2009, 387).

Auch die im gerichtlichen Verfahren ergänzten Ermessenserwägungen verkennen den Schutzcharakter des Art. 6 Abs. 2 GG. Der Beklagte ist danach der Auffassung, eine zeitlich befristete Trennung von einem Jahr vom Kind des Klägers sei in dem gegenwärtigen frühkindlichen Alter zumutbar, denn der Kläger habe anschließend genug Zeit und Möglichkeiten, auf die Entwicklung seines Kindes Einfluss zu nehmen. Mit diesem Vorbringen wird aber ebenso wenig auf die Sicht und das Wohl des Kindes abgestellt.

Bei der erneut zu treffenden Entscheidung, welcher Trennungszeitraum mit Blick auf die familiären Belange des Klägers verhältnismäßig ist, hat der Beklagte auch die familiäre Gesamtsituation aufzuklären. Dabei hat der Beklagte zu prüfen, ob die Rückkehr des Klägers innerhalb der von ihm für angemessen erachteten Frist realisierbar ist. Bei der Prüfung der Frage, inwieweit der am 10.03.2011 geborene Sohn zu seinem Wohl auf den persönlichen Kontakt zum Kläger angewiesen ist, ist es sachgerecht, Bedienstete des Jugendamtes oder andere Personen mit Kinder- und/oder sozialpsychologischem Sachverstand zu Rate zu ziehen. Weiter wird der Beklagte in Rechnung zu stellen haben, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Klägers nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 - NVwZ 2000, 59 und Beschl. v. 08.12.2005 - 2 BvR 101/04 - DVBl. 2006, 247 m.w.N.). Schließlich wird der Beklagte zu berücksichtigen haben, dass im Ergebnis der gebotenen Sachverhaltsaufklärung auch eine Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt geboten sein kann, wenn die ordnungsrechtlichen Zwecke erreicht sind. [...]