Für ein Kleinstkind, das bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst, besteht unter Berücksichtigung der in Nigeria herrschenden Lebensbedingungen im Falle der Rückkehr eine extreme Gefährdung.
Die Gefahr der Genitalverstümmelung für ein weibliches Kleinkind führt nicht zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz.
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Die Klägerin hat allerdings nach der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs.1 AsylVfG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Ursachen sie beruht. Entscheidend ist allein, ob für den Ausländer eine konkrete individuelle Gefahr der in der Vorschrift genannten Rechtsgüter besteht, wobei die Gefahr dem Einzelnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit drohen muss (vgl. zu den gleichlautenden Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Urteile vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl 1996, 1257 und vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324; zur Übertragbarkeit auf das neue Recht: BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2005 - 1 B 16.05 -).
Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - auch insoweit der Normstruktur des § 53 Abs. 6 AuslG entsprechend - nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG i.d.F. des Gesetzes vom 19. August 2007, BGBl I S. 1970, der deckungsgleich mit § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG der bisherigen Fassung ist). Eine solchermaßen allgemeine Gefahr unterfällt § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen droht; denn bei allgemeinen Gefahren entfaltet Satz 3 der Vorschrift eine Sperrwirkung dahin, dass über die Gewährung von Abschiebungsschutz allein im Wege politischer Leitentscheidung befunden werden soll. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch bei einer allgemeinen Gefahr ausnahmsweise dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung so extrem ist. dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges" dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde (vgl. (zu § 53 Abs.6 AuslG) BVerwG, Urteile vom 8. Dezember 1998 - 9 C 4.98 -, BVerwGE 108, 77 und vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, BVerwGE 115, 1).
Die extreme Gefahrenlage ist insbesondere geprägt durch einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad und die - freilich nicht mit dem zeitlichen Verständnis eines sofort bei oder nach der Ankunft eintretenden Ereignisses gleichzusetzende - Unmittelbarkeit eines Schadenseintritts (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001, a.a.O., und Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617/98 -, NVwZ 1999, 668).
Ausgehend von diesen Vorgaben ist in der Person der Klägerin ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Klägerin als minderjähriges Kleinstkind auf Grund der individuellen Umstände unter Berücksichtigung der in Nigeria herrschenden Lebensbedingungen im Falle der Rückkehr eine extreme Gefährdung droht.
In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass die wirtschaftliche und soziale Lage der großen Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung schwierig und angespannt ist. Die breite Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung leidet unter Verarmung. Ca. 50-70 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze von 1 US Dollar pro Tag. Trotz dieser schwierigen Umstände ist die Basisversorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zumindest im städtischen Bereich grundsätzlich gewährleistet. Ein vom Staat organisiertes und finanziertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. Die Patienten müssen ihre Behandlung auch in staatlichen Krankenhäusern selbst bezahlen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 21. Januar 2009, S. 21, und vom 7. März 2011, S. 22 f.).
Ist bereits die Lage der allgemeinen Bevölkerung als problematisch zu bezeichnen, so stellt sich die Situation von alleinstehenden bzw. erst recht alleinerziehenden Frauen als weitaus sehr viel schwieriger dar. Frauen sind in Nigeria vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. Sie werden in Nigeria weitgehend als nicht geschäftsfähig behandelt, so dass die Wahrung ihrer eigenen Belange und Ansprüche praktisch nur möglich ist, wenn sie über familiären Beistand verfügen. Demnach ist es für Alleinstehende angesichts der ohnehin schlechten Wirtschaftslage und der Bedeutung der Familien- und Stammesbindungen in der nigerianischen Gesellschaft äußerst schwierig, ohne die familiäre Unterstützung an anderen Orten in Nigeria Fuß zu fassen. Einer Frau, die sich von ihrer Großfamilie abwendet bzw. von dieser verstoßen wird, droht die gesellschaftliche und sozioökonomische Marginalisierung. Alleinstehende Frauen finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 6. Mai 2006, S. 11 f., 27, vom 21. Januar 2009, S. 13 f., und vom 7. März 2011, S. 15 f.; Auskunft des Auswärtiges Amtes an das VG Düsseldorf vom 28. April 2003; Auskunft von amnesty international an das VG Düsseldorf vom 24. Juli 2004).
Vor dem Hintergrund dieser Sachlage droht der Klägerin als Kleinstkind im Falle ihrer Rückkehr, die wegen des Schutzes von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK nicht alleine, sondern mit ihrer Mutter und ihrem dreijährigen Bruder erfolgen würde, eine extreme Gefährdung in Nigeria. Denn die für die Versorgung allein zuständige Mutter der Klägerin ist unter den dargelegten Umständen nicht in der Lage, für die Sicherung des Existenzminimums zu sorgen. Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Mutter der Klägerin nicht auf eine vorhandene - sie unterstützende - Familienstruktur zurückgreifen kann. Die Mutter der Klägerin besitzt nach ihren Angaben - abgesehen von ihrem Onkel, bei dem sie aufgewachsen ist, - keine ihr in Nigeria bekannten Verwandten. Ihr Vater ist verstorben, die Mutter verschwunden, Geschwister hat sie nicht. Das Gericht hat keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Die Mutter der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung für das Gericht in überzeugender und eindrücklicher Weise ihre familiäre Situation dargelegt. Insbesondere hat sie die vor ihrer Ausreise widerfahrenen Misshandlungen durch ihren Onkel plausibel geschildert. Gerade im Hinblick auf den persönlichen Eindruck, den das Gericht von der Mutter der Klägerin gewonnen hat, geht es davon aus, dass diese von wahrhaft Erlebtem berichtet hat. So war das Aussageverhalten der Mutter der Klägerin ersichtlich von dem Bemühen gekennzeichnet, die vor ihrer Ausreise für sie existierende Bedrohungssituation dem Gericht verständlich zu machen. Auch wenn in manchen Teilbereichen gewisse Abweichungen im Laufe des Verfahrens aufgetreten sind und diese von der Mutter der Klägerin nicht in allen Punkten aufgelöst werden konnten, so ist doch gerade das wesentliche Kerngeschehen von dieser in sich stimmig, nachvollziehbar und überzeugend geschildert worden. Mit Blick darauf geht das Gericht davon aus, dass die Mutter der Klägerin - schon wegen der erlittenen und bei Rückkehr wieder zu befürchtenden Misshandlungen durch ihren Onkel - auf die einzige verwandtschaftliche Beziehung in Nigeria nicht zumutbar zurückgreifen kann. Hinzu kommt, dass sie im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland als Mutter von zwei unehelichen Kindern einer sozialen Missbilligung anheimfiele. Die notwendige Schaffung einer sicheren Überlebensgrundlage ist aber ohne entsprechenden Schutz einer Familie oder einer Dorfgemeinschaft - wie dargelegt - für eine alleinstehende Frau nur äußerst schwer möglich. Praktisch dürfte dieses nur mit entsprechend gutem Ausbildungsstand und gewissen finanziellen Ressourcen für eine alleinstehende Frau bei den skizzierten Verhältnissen in Nigeria zu bewerkstelligen sein. Hierüber aber verfügt die Mutter der Klägerin gerade nicht. Sie hat nur eine sehr geringe Schulbildung und keine abgeschlossene Berufsbildung. Über finanzielle Ressourcen verfügt sie nicht. Gravierend für ihre Lebenssituation kommt hinzu, dass sie zwei Kleinkinder hat, die auf Grund ihres Alters von nur 1 1/2 bzw. drei Jahren beide auf ihre intensive Betreuung angewiesen sind. Im Hinblick darauf erscheint es unter Berücksichtigung aller Umstände nicht möglich, dass es der Mutter der Klägerin - selbst mit Hinblick auf ihre Vertrautheit mit den Lebensbedingungen in ihrem Lande - gelingen könnte, in ihrer Heimat überhaupt eine bescheidene Existenz aufzubauen. Damit aber steht konkret zu befürchten, dass es im Falle der Rückkehr der Klägerin und ihrer Familienangehörigen an der Beschaffung des Lebensnotwendigen mangelt und die Klägerin zusammen mit ihrem minderjährigen Bruder und ihrer Mutter alsbald in eine ausweglose Situation geriete. [...]