VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Beschluss vom 17.11.2011 - 9 B 278/11 MD - asyl.net: M19516
https://www.asyl.net/rsdb/M19516
Leitsatz:

Es ist davon auszugehen, dass derzeitig die Aufforderung, bei der Botschaft der Syrischen Arabischen Republik vorzusprechen und ein Reisedokument zu beantragen, rechtswidrig ist. Eine Abschiebung nach Syrien ist angesichts der derzeitigen Lage in Syrien fernliegend.

Schlagwörter: Syrien, Reisedokument, Mitwirkungspflicht, Botschaft
Normen: AufenthG § 82 Abs. 4, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

2. Die Anträge der Antragsteller zu 1 und 2 sind begründet. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen Ziffer 1 des Bescheides der Antragsgegnerin und auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 08.11.2011.

a) Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen, aber auch allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist vorliegend davon auszugehen, dass die Aufforderung, bei der Botschaft der Syrischen Arabischen Republik vorzusprechen und ein Rückreisedokument zu beantragen, sich als rechtswidrig erweisen wird. Ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung rechtswidriger Verwaltungsakte besteht nicht.

Rechtsgrundlage für die Aufforderung der Antragsgegnerin ist § 82 Abs. 4 AufenthG. Danach kann, soweit es zur Durchführung von Maßnahmen nach diesem Gesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen erforderlich ist, angeordnet werden, dass ein Ausländer bei der zuständigen Behörde sowie den Vertretungen oder ermächtigten Bediensteten des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutllch besitzt, persönlich erscheint. Diese Voraussetzungen liegen nach summarischer Prüfung derzeit nicht vor. Eine Abschiebung der Antragsteller kommt auf absehbare Zeit nicht in Betracht, insoweit verkennt das Gericht nicht, dass Vorbereitungshandlungen für eine Abschiebung nicht erst dann ergriffen werden dürfen, wenn mit letzter Sicherheit feststeht, dass eine Abschiebung tatsächlich durchgeführt werden kann (vgl. OVG Bremen, B. v. 23.03.2010, 1 B 397/09, 18 398/09, Rn. 10, juris). Indes darf eine Abschiebung auch nicht derartig fern liegen, wie vorliegend.

aa) Bereits die noch bis August 2012 bestehende Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers zu 6 hindert derzeit die Abschiebung der Antragsteller zu 1 und 2. Unter Berücksichtigung des auch für die Antragsteller zu 1 und 2 geltenden Art. 6 GG kommt eine Abschiebung ohne ihren Sohn nicht in Betracht. Soweit die Antragsgegnerin letztlich meint, die erteilte Aufenthaltserlaubnis müsse zurückgenommen werden und diese Rücknahme könne erst dann erfolgen, wenn die Staatsangehörigkeit beider Eltern feststeht, so könnte dem entgegenstehen, dass vor dem Hintergrund der derzeitigen Lage in Syrien, eine ordnungsgemäße Behandlung des Antragstellers zu 6 weiterhin nicht möglich ist, so dass es bei dem festgestellten Abschiebeverbot verbleiben muss.

bb) Abgesehen von diesem nur die Antragsteller betreffenden Abschiebungshindernis gilt derzeit, wie der Antragsgegnerin durchaus bewusst sein dürfte, ein Abschiebestopp für sämtliche Personen aus Syrien. Seit mehr als sechs Monaten herrschen heftige Unruhen in Syrien, die der syrische Staat mit erheblicher Gewalt versucht zu bekämpfen. Diese Lage hat das Gericht in nunmehr ständiger Rechtsprechung veranlasst, Personen aus Syrien einen Anspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzusprechen, weil das Gericht davon ausgeht, dass allein die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt ausreichen, um in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung zu unterliegen (vgl. nur Gerichtsbescheid vom 25.08.2011, 9 A 230/10 MD; juris). Eine Abschiebung ist auch vor diesem Hintergrund eher fernliegend.

cc) Für den Antragsteller zu 1 liegen die Voraussetzungen für eine Botschaftsvorführung auch deshalb nicht vor, weil offensichtlich die Identität des Antragstellers zu 1 ebenso feststeht wie seine Staatsangehörigkeit. Die Botschaftsvorführung ist hierfür nicht notwendig.

dd) Schließlich liegt bei summarischer Prüfung ein Ermessensausfall vor. Die Antragsgegnerin hat in keiner Weise erwogen, ob sie es syrischen Staatsangehörigen und auch Staatenlosen aus Syrien, die ein noch offenes, nicht ersichtlich aussichtsloses Asylfolgeverfahren betreiben, vor dem Hintergrund der aktuellen, allgemein bekannten Situation in Syrien zumuten kann, die Botschaft Syriens aufzusuchen. Die Antragsgegnerin hätte sich insoweit bewusst machen müssen, dass eine Vorführung dazu führt, dass sich der Ausländer quasi in das Staatsgebiet Syriens begibt, in der Botschaft besteht keine Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland, es ist exterritoriales Gebiet. Insoweit muss sich die Antragsgegnerin auch bewusst machen, dass sich eine Rückkehrgefährdung noch weiter steigern wird, wenn sich der Ausländer in der Botschaft Syriens äußern muss. Der Auslandsaufenthalt liegt dann für den syrischen Staat auf der Hand. In diesem Zusammenhang hat sich die Antragsgegnerin zudem in keiner Weise mit dem Vorbringen des Antragstellers zu 1 auseinandergesetzt, er dürfe die Botschaft nicht betreten, ein Vortrag, dessen Glaubhaftigkeit sich ggf. unter Berücksichtigung der exilpolitischen Betätigung des Antragstellers zu 1, die die Antragsgegnerin gleichfalls nicht berücksichtigt hat, herausstellen könnte. [...]