OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.03.2012 - 7 A 11417/11.OVG - asyl.net: M19527
https://www.asyl.net/rsdb/M19527
Leitsatz:

Eine 20-jährige geistig behinderte Frau, die im Alter von zwei Jahren nach Deutschland gekommen ist, ist die Ausreise aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil ihre Abschiebung in das Kosovo einem mit Art. 8 EMRK nicht zu vereinbarenden Eingriff in ihr Privatleben darstellen würde und ihr deswegen eine freiwillige Ausreise nicht zugemutet werden kann. Dabei ist der frühere rechtmäßige Aufenthalt zu berücksichtigen, ebenso die überlange Verfahrensdauer der Widerspruchsentscheidung (4,5 Jahre). Eine mit der Integration in die hiesigen Verhältnisse vergleichbare Reintegration in die Verhältnisse im Kosovo wird nicht möglich sein, da Beschäftigungsmöglichkeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen im Kosovo nicht bestehen.

Schlagwörter: Ausreisehindernis, Abschiebungshindernis, Achtung des Privatlebens, lange Verfahrensdauer, übermäßig lange Verfahrensdauer, Verfahrensdauer, Verhlätnismäßigkeit, Integration, Behinderung, geistige Behinderung, Erwerbstätigkeit, Reintegration
Normen: AufenthG § 25 As. 5, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1, EMRK Art. 8 Abs. 2
Auszüge:

[...]

1) Was die Klägerin zu 3. anbelangt, so ist ihr eine Ausreise aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil ihre Abschiebung in das Kosovo einen mit Art. 8 EMRK nicht zu vereinbarenden Eingriff in ihr Privatleben darstellen würde und ihr deswegen auch eine freiwillige Ausreise nicht zugemutet werden kann.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für die Persönlichkeit eines jeden Menschen konstitutiv sind (EGMR, Urteil vom 9. Oktober 2003 – 48321/99 – "Slivenko" – EuGRZ 2006, 560 [561]) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 – InfAuslR 2007, 275 [277] und vom 21. Februar 2011 – 2 BvR 1392/10 - InfAuslR 2011, 235 [236] sowie BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 – 1 C 40.07 – BVerwGE 133, 72 [82 Rn. 21]). Zwar folgt aus Art. 8 EMRK grundsätzlich kein Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Vertragsstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005 – 60654/00 – "Sisojewa I" – InfAuslR 2005, 349 sowie Entscheidungen vom 17. Oktober 2004 – 33743/03 – "Dragan" – NVwZ 2005, 1043 [1045] und vom 16. Juni 2004 – 11103/03 – "Ghiban" – NVwZ 2005, 1046; vgl. ferner BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 – 1 C 18.96 – NVwZ 1998, 189 m.w.N.). Jedoch kann einem Ausländer bei fortschreitender Aufenthaltsdauer aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens auch eine von dem betreffenden Vertragsstaat zu beachtende aufenthaltsrechtliche Rechtsposition zuwachsen.

Der Schutzbereich des Art. 8 EMRK ist im Fall der Klägerin zu 3. ohne weiteres eröffnet, nachdem sie sich seit über 18 Jahren in Deutschland aufhält. Zwar kommt ein Privatleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK, das den Schutzbereich dieser Vorschrift eröffnet, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zumindest "grundsätzlich" nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (vgl. dessen Urteile vom 26. Oktober 2010 – 1 C 18.09 – InfAuslR 2011, 92 [93] und vom 30. April 2009 – 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 [335]; offengelassen vom EGMR in der Entscheidung vom 16. September 2004 – 11103/03 – a.a.O. und im Urteil vom 8. April 2008 – 21878/06 – "Nnyanzi" – ZAR 2010,189 [190 f.]). Der Aufenthalt der Klägerin zu 3. war jedoch zunächst 3 ½ Jahre gestattet und danach vom 30. Juli 1997 bis zum 26. Oktober 2004, also 7 ¼ Jahre lang genehmigt. Angesichts dessen war in ihrem Fall der Schutzbereich des Art. 8 EMRK bereits damals eröffnet.

Zudem galten die Gründe, aus denen die Aufenthaltsbefugnisse der Kläger zuletzt vom 27. April bis zum 26. Oktober 2004 verlängert worden waren, bis zum Eintritt der Bestandskraft der den Kläger zu 1., den Vater der Klägerin zu 3., betreffenden Widerrufsentscheidung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – im Folgenden: Bundesamt – am 13. Mai 2005 weiter und hätten deshalb bis zum 31. Dezember 2004 die Erteilung weiterer Aufenthaltsbefugnisse und ab dem 1. Januar 2005 die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 2 Satz 1 bzw. nach § 29 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerechtfertigt.

Es kommt weiter hinzu, dass – auch – der Klägerin zu 3. mangels des Vorliegens eines Ausnahmefalles seit dem 28. August 2007 ein von ihrer Mutter, der Klägerin zu 2., abgeleiteter Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zustand, der an diesem Tag in Kraft getretenen ist. Die Klägerin zu 2. erfüllte nämlich ab dem 28. August 2007 sämtliche allgemeinen und besonderen Voraussetzungen für die Erteilung einer so genannten Aufenthaltserlaubnis auf Probe, entgegen der Annahme des Beklagten und des Verwaltungsgerichts insbesondere auch die in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aufgestellte. Die Klägerin zu 2. mag zwar gebilligt und sogar begrüßt haben, dass sich ihr Ehemann, der Kläger zu 1., nicht um die Ausstellung eines serbischen Reisepasses bemühte, wozu er gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG – mit Blick auf § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erst – ab dem 13. Mai 2005 verpflichtet war, doch hat sie allein deswegen nicht etwa selbst vorsätzlich die Beendigung ihres Aufenthaltes hinausgezögert oder behindert, die dem Beklagten überdies ab dem 3. März 2006 aufgrund des Beschlusses des erkennenden Senats vom 24. Februar 2006 – 7 B 10020/06.OVG – a.a.O. untersagt war; eine vorsätzliche Hinauszögerung oder Behinderung der Beendigung ihres Aufenthaltes durch die Klägerin zu 2. ist auch sonst nicht ersichtlich. Ein in der Vergangenheit materiellrechtlich bestehender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels stellt indes, auch wenn er durch die Ausländerbehörde nicht erfüllt wurde, gleichwohl wie ein rechtmäßiger Aufenthalt eine "Handreichung des Staates" (vgl. Hoppe, ZAR 2006, 125 [128]) dar, auf deren Grundlage schutzwürdiges Vertrauen auf einen Verbleib im Bundesgebiet entwickelt werden kann (vgl. VGH BW, Urteile vom 13. Dezember 2010 – 11 S 2359/10 – InfAuslR 2011, 250 [252] sowie vom 4. November 2009 – 11 S 2472/08 – InfAuslR 2010, 103 [107]). Auch nachdem der jugoslawische Pass der Kläger zu 2. bis 5. am 14. September 2008 abgelaufen war, blieb dem Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Rahmen des ihm nunmehr durch § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten Ermessens möglich, die der Klägerin zu 3. dann ab der Vollendung ihres 18. Lebensjahres am 4. Mai 2009 zudem aus eigenem und nicht nur aus einem von ihrer Mutter abgeleiteten Recht zustand (vgl. den Beschluss des erkennenden Senats vom 19. Juni 2009 – 7 B 10468/09.OVG – ESOVGRP).

Schließlich hat das Widerspruchsverfahren übermäßig lange gedauert. Der Beklagte hat den Aufenthalt – auch – der Klägerin zu 3. seit dem 21. März 2006 zwar lediglich geduldet, weil ihm deren Abschiebung vor der Zustellung eines Widerspruchsbescheides durch den Beschluss des erkennenden Senats vom 24. Februar 2006 – 7 B 10020/06.OVG – a.a.O. untersagt war. Der Widerspruchsbescheid ist jedoch trotz klägerseitiger Nachfrage erst am 31. Mai 2010 und damit mehr als 4 ½ Jahre nach Widerspruchserhebung zugestellt worden, ohne dass die im Beschluss des erkennenden Senats vom 26. Februar 2006 erwartete weitere Sachverhaltsaufklärung vollständig erfolgt ist und ohne dass Gründe für die überlange Verfahrensdauer ersichtlich sind. Dies stellte ebenfalls eine Art "Handreichung des Staates" dar, die – auch – bei der Klägerin zu 3. eine weitere Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse und eine weitere Entwurzelung aus den Verhältnissen in Kosovo zur Folge hatte.

Nach alledem würde die Beendigung des Aufenthaltes der Klägerin zu 3. im Bundesgebiet einen Eingriff in den Schutzbereich des ihr gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK zustehenden Rechts auf Achtung ihres Privatlebens bedeuten. Dieser Eingriff wäre gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, wenn er eine Maßnahme darstellen würde, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist, sich also als verhältnismäßig erweist. Daran fehlt es.

Im Rahmen der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung ist einerseits maßgeblich zu berücksichtigen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Gesichtspunkte sind insoweit insbesondere die Dauer und der Grund seines Aufenthalts in Deutschland sowie dessen rechtlicher Status, der Stand seiner Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift, seine berufliche Tätigkeit und seine wirtschaftliche Integration bzw. bei einem Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen seine Integration in eine Schul-, Hochschul- oder Berufsausbildung, seine Wohnverhältnisse, seine sozialen Kontakte sowie die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote. Zum zweiten ist insoweit maßgeblich, welche Schwierigkeiten für den Ausländer – wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung – mit einer (Re-)Integration in den Staat verbunden sind, in den er ausreisen soll. Gesichtspunkte sind diesbezüglich vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen und geschriebenen Sprache bestehen bzw. erworben werden können, inwieweit der Ausländer mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-)Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit diese erforderlich sein sollte (vgl. bereits den Beschluss des erkennenden Senats vom 24. Februar 2006 – 7 B 10020/06.OVG – a.a.O. S. 275 f. m.w.N.). Schließlich ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgeblich zu berücksichtigen, welches öffentliche Interesse an dem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK besteht. Dass dieses Interesse bei einem Ausländer, der seinen und seiner Familie Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Erwerbstätigkeit sicherstellt und die öffentliche Sicherheit und Ordnung lediglich dadurch stört, dass er keinen Aufenthaltstitel besitzt und nur geduldet ist, von deutlich geringerem Gewicht ist als beispielsweise bei einem Ausländer, der bereits erhebliche Straftaten begangen hat und bei dem die Gefahr der Begehung weiterer solcher Straftaten besteht, versteht sich von selbst (vgl. den Beschluss des erkennenden Senats vom 6. März 2009 – 7 B 10028/09.OVG – juris Rn. 14).

Letztlich kommt es – wie im Rahmen jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung – auf die Berücksichtigung und Würdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles an. Ein mit Art. 8 EMRK nicht vereinbarer Ein11 griff in den Anspruch auf Achtung des Privatlebens eines Ausländers setzt deshalb nicht zwingend dessen abgeschlossene und gelungene Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland oder gar voraus, dass er wie ein Inländer in den hiesigen Lebensverhältnissen verwurzelt ist. Auch reicht etwa allein der Umstand, dass ein im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt und seinen Lebensunterhalt bislang nahezu ausschließlich aus öffentlichen Sozialleistungen bestritten hat, für sich allein nicht aus, um ungeachtet aller anderen Besonderheiten des Falles seine Verwurzelung im Bundesgebiet zu verneinen (so der Beschluss des BVerwG vom 19. Januar 2010 – 1 B 25.09 – NVwZ 2010, 707 [708] sowie das Urteil des erkennenden Senats vom 3. November 2011 – 7 A 10842/11.OVG – ESOVGRP und dessen Beschluss vom 25. August 2010 – 7 B 10845/10.OVG –). Ein mit Art. 8 EMRK nicht vereinbarer Eingriff in den Anspruch auf Achtung des Privatlebens eines Ausländers ist auch nicht stets dann ausgeschlossen, wenn sich dieser (wieder) in die Verhältnisse eines anderen Staates einfinden könnte, in den er ausreisen kann (vgl. den Beschluss des erkennenden Senats vom 6. März 2009 – 7 B 10028/09.OVG – juris Rn. 15).

Was die Integration der heute 20-jährigen Klägerin zu 3. in die hiesigen Lebensverhältnisse anbelangt, so ist zunächst zu sehen, dass sie im Alter von zwei Jahren ins Bundesgebiet eingereist ist und sich hier seitdem ohne jegliche Unterbrechung über 18 Jahre lang aufgehalten hat. [...] Nach den Feststellungen des Senats in der mündlichen Verhandlung spricht sie, soweit sie dies aufgrund ihrer geistigen Behinderung überhaupt tut (vgl. dazu etwa ihr Abschlusszeugnis vom 25. Juni 2010 – S. 95 der Gerichtsakte [im Folgenden: GA]), ganz überwiegend Deutsch. Sie hat mit Erfolg 12 Jahre lang eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt "ganzheitliche Entwicklung" besucht und den entsprechenden Schulabschluss erreicht (vgl. S. 95 GA). Zu einer Berufsausbildung oder zur Ausübung einer echten Erwerbstätigkeit ist sie behinderungsbedingt nicht in der Lage. Während ihrer Schulzeit hatte sie, wie ihren Zeugnissen entnommen werden kann, zunehmend guten Kontakt zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern (vgl. S. 58, 91, 93, 94 und 95 GA). Vergleichbare soziale Kontakte würde sie bei der geplanten Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen erneut haben, die – soweit ersichtlich – bislang nur daran gescheitert ist, dass sie nach Auffassung der Bundesagentur für Arbeit im Bundesgebiet keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 1 SGB I hat, weil der Beklagte ihre Abschiebung jeweils nur für meist drei, maximal für sechs Monate aussetzt, sie also nur jeweils kurzfristig duldet (vgl. S. 474 und 475 R der den Kläger zu 1. betreffenden Verwaltungsakte [im Folgenden: VA 1]). Die Klägerin zu 3. hat sich bislang stets an Recht und Gesetz gehalten. Zwar ist sie seit dem 14. September 2008 entgegen § 3 Abs. 1 AufenthG nicht mehr im Besitz eines Passes, doch war ihr die bislang zum Erwerb eines kosovarischen Passes erforderliche Reise in das Kosovo behinderungsbedingt allein nicht möglich. Auch hätte ihr deshalb der Beklagte einen Ausweisersatz im Sinne von § 48 Abs. 2 AufenthG ausstellen können, sollte er dies nicht sogar gewollt haben (vgl. S. 229 und 293 VA 1). Unter Berücksichtigung ihrer behinderungsbedingten Beeinträchtigungen und gemessen an ihrer intellektuellen Befähigung hat die Klägerin den für sie höchstmöglichen Grad der Verwurzelung in den Verhältnissen in Deutschland erreicht; zu weitergehenden Integrationsleistungen ist sie behinderungsbedingt nicht in der Lage.

Demgegenüber wird der Klägerin zu 3. eine mit ihrer Integration in die hiesigen Verhältnisse vergleichbare Reintegration in die Verhältnisse in Kosovo nicht möglich sein. Erinnerungen an das Leben in Kosovo hat sie nicht, mit den dortigen Lebensverhältnissen ist sie nicht vertraut. Zwar gebraucht sie, wie auch die Feststellungen des Senats in der mündlichen Verhandlung ergeben haben, gegenüber ihren Eltern noch immer auch einige Worte Albanisch. Sie wird jedoch weitere Wörter oder gar kurze Sätze auf Albanisch angesichts des Einbruchs ihrer Entwicklung im siebten Schulbesuchsjahr (vgl. das Zeugnis vom 22. Juli 2005 [S. 58 GA] einerseits und die nachfolgenden Zeugnisse andererseits, in denen im Wesentlichen nur noch vom Erwerb lebenspraktischer Fähigkeiten die Rede ist) kaum hinzuerlernen können. Eine Berufsausbildung oder die Ausübung einer Erwerbstätigkeit wird ihr dort nicht möglich sein. Auch Maßnahmen der Eingliederungshilfe, die ihr eine sinnvolle und sie mit Stolz erfüllende (vgl. das Zeugnis vom 10. Juli 2009 – S. 93 GA) Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen ermöglichen würde, gibt es dort – soweit ersichtlich – nicht. Sie wird dort deshalb auch keine über die zu den Mitgliedern ihrer Kernfamilie hinausgehenden soziale Kontakte zu Bekannten oder gar Freunden haben können. Abgesehen von alledem wird ihre Reintegration in die dortigen Verhältnisse durch ihre geistige Behinderung auch sonst deutlich erschwert sein.

Des Weiteren wird sich ihre finanzielle Absicherung in Kosovo entgegen der Darstellung des Verwaltungsgerichts nicht nur "voraussichtlich weniger günstig gestalten (…) als in der Bundesrepublik Deutschland", sondern aller Voraussicht nach völlig unzulänglich sein. Zwar trifft es zu, dass das Bundesamt mit Bescheid vom 13. Dezember 1996 das Bestehen von Abschiebungshindernissen – auch – bezüglich der Klägerin zu 3. verneint hat und dass dieser Entscheidung gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG noch immer Bindungswirkung zukommt. Deshalb kann jedoch lediglich ausgeschlossen werden, dass – auch – die Klägerin zu 3. bei einer Rückkehr in das Kosovo alsbald mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, in der sie "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen", etwa mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein würde (vgl. nur BVerwG, Urteile vom 8. Dezember 1998 – 9 C 4.98 – BVerwGE 108, 77 [80] und vom 29. Juni 2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226 [232 f. Rn. 14 f.], beide m.w.N.). Weitergehende Rückschlüsse auf die Situation, in die – auch – die Klägerin zu 3. zurückkehren müsste und die der Beklagte und das Verwaltungsgericht nicht näher untersucht haben, lässt die Entscheidung des Bundesamtes aber nicht zu. Diese Situation ist gekennzeichnet durch eine Arbeitslosenquote in Höhe von rund 45 %. Auch wenn letztere in der Gruppe der 15- bis 25-Jährigen bei über 70 % liegt und angesichts des hohen Anteils der Beschäftigten im informellen Sektor etwas zu revidieren ist, haben damit nicht nur ihre 19-jährige Schwester, die Klägerin zu 4., sondern auch der bereits über 62-jährige Kläger zu 1. und die fast 48-jährige Klägerin zu 2. als Frau kaum Aussichten auf mehr als eine allenfalls geringfügige Beschäftigung. Zwar werden in Kosovo Sozialleistungen gewährt, doch betragen diese – bei einem durchschnittlichen monatlichen Brutto-Arbeitseinkommen von 300,00 € – für Einzelpersonen monatlich 40,00 € und für Familien monatlich bis zu 80,00 €. Bei einer 5-köpfigen Familie erhält mithin jeder nicht einmal 0,55 € pro Tag; die Armutsgrenze liegt in Kosovo bei 1,37 € pro Tag und Erwachsenem, die Grenze zur erheblichen Armut bei 0,97 € pro Tag und Erwachsenem. Die Sozialleistungen reichen mithin zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum aus. Meist wird das wirtschaftliche Überleben durch den Zusammenhalt der Familien sowie durch die in Kosovo ausgeprägte zivilgesellschaftliche Solidargemeinschaft gesichert (vgl. insgesamt S. 26 – 28 des Berichts des Auswärtigen Amtes vom 6. Januar 2011 über die asyl- und abschieberechtliche Lage in der Republik Kosovo, dessen Hinweise auf www.auswaertiges-amt.de ? Reise und Sicherheit ? Länder A – Z ? Kosovo ? Wirtschaftspolitik [Stand Februar 2012] sowie wikipedia.de ? Kosovo ? Gliederungsnummern 8.4.3 und 8.4.4). Dies wird im Fall der Kläger allenfalls eingeschränkt der Fall sein: Selbst wenn sie in Kosovo entgegen ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung noch über Familienangehörige verfügen sollten, so ist doch der Kontakt zu jenen nach über 18 Jahren offenbar abgerissen, und nach über 18 Jahren Abwesenheit würden die Kläger wohl auch nur zögerlich wieder in die zivilgesellschaftliche Solidargemeinschaft aufgenommen werden. Zwar macht der Beklagte zu Recht geltend, dass einem Ausländer die Ausreise in einen anderen Staat mit wesentlich ungünstigeren (wirtschaftlichen) Verhältnissen als in der Bundesrepublik Deutschland nicht bereits deshalb stets unzumutbar ist. Gleichwohl sind die Verhältnisse in dem Staat, in den ein Ausländer ausreisen soll, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK angemessen zu berücksichtigen.

Das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthaltes der Klägerin zu 3. besteht angesichts des Umstandes, dass sie ihren Lebensunterhalt wohl nie im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG wird sichern können, im Wesentlichen darin, die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel durch sie zu verhindern. Diesem öffentlichen Interesse kommt zwar in aller Regel erhebliche Bedeutung zu, wie auch aus der gesetzlichen Wertung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG folgt. Dies gilt im Fall der Klägerin zu 3. jedoch nicht. Wären nämlich den Klägern aufgrund der insoweit bis zum 13. Mai 2005 fortgeltenden Gründe durchgängig Aufenthaltsbefugnisse, die gemäß § 101 Abs. 2 AufenthG ab dem 1. Januar 2005 als Aufenthaltserlaubnisse weitergegolten hätten, und gegebenenfalls im Anschluss daran nach dem 1. Januar 2005 Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 2 Satz 1 bzw. nach § 29 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt worden, so hätte die Klägerin zu 3. ab dem 1. Januar 2005 die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 Abs. 1 AufenthG, ggf. in Verbindung mit § 26 Abs. 4 Sätze 1 und 2, erfüllt. Zwar setzt dies gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3 AufenthG grundsätzlich voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist und dass 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet wurden oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens nachgewiesen werden. Im Fall der Klägerin gelten diese Voraussetzungen gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 und 6 AufenthG jedoch nicht, da sie diese Voraussetzungen infolge ihrer geistigen Behinderung nicht erfüllen kann. Wäre – auch – der Klägerin zu 3. alsbald nach Bestandskraft der Entscheidung des Bundesamtes vom 13. Dezember 1996 am 4. März 1997 eine Aufenthaltsbefugnis erteilt worden, so hätte sie bei obiger Prämisse vor dem 13. Mai 2005 sogar nach § 10 Abs. 1 StAG eingebürgert werden können. Denn gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 muss der Ausländer den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten können oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten haben. Letzteres ist bei der Klägerin zu 3. infolge ihrer geistigen Behinderung der Fall. Da mithin § 9 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3 sowie Satz 3 und 6 AufenthG und sogar § 10 Abs. 1 Nr. 3 StAG im Fall der Klägerin zu 3. hätten Anwendung finden können, so kommt angesichts der gesetzlichen Wertungen in diesen Bestimmungen, die der Klägerin zu 3. einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht hätten, obwohl sie ihren Lebensunterhalt nur durch die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann, in ihrem Falle dem öffentlichen Interesse an der Beendigung ihres Aufenthaltes zur Verhinderung der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel ausnahmsweise allenfalls untergeordnete Bedeutung zu.

Bei Berücksichtigung aller dieser Umstände und bei deren angemessener Würdigung kommt, auch wenn die Beendigung des Aufenthaltes eines Ausländers nicht "nur deshalb" als mit Art. 8 EMRK unvereinbar angesehen werden kann, "weil dieser sich über einen bestimmten Zeitraum in dem Hoheitsgebiet des Vertragsstaats aufhält" (vgl. EGMR, Entscheidung vom 16. Juni 2004 – 11103/03 – a.a.O.), allein schon der Dauer des Aufenthaltes der Klägerin zu 3. im Bundesgebiet von über 18 Jahren ein ganz erhebliches Gewicht zu, zumal sie im Alter von nur 2 Jahren ins Bundesgebiet einreiste und deshalb nahezu ausschließlich hier ihre Sozialisierung erfuhr. Überdies war ihr Aufenthalt – wie oben bereits aufgezeigt – über zehn Jahre lang rechtmäßig und beruhte ansonsten überwiegend auf "Handreichungen des Staates". Deswegen und mit Blick auf die besonderen Schwierigkeiten, die mit ihrer – behinderungsbedingt ohnehin nur eingeschränkt möglichen – Reintegration in die Verhältnisse in Kosovo verbunden sein würden, sowie auf die dortige wirtschaftliche Situation und deren konkrete Auswirkungen auf sie, und zwar selbst im Falle einer gemeinsamen Rückkehr mit ihrer Familie dorthin, erweist sich die Beendigung des Aufenthaltes der Klägerin zu 3. im Bundesgebiet angesichts der allenfalls untergeordneten Bedeutung des daran bestehenden öffentlichen Interesses als im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht "in einer demokratischen Gesellschaft (…) notwendig" und damit als unverhältnismäßig. [...]