VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 28.03.2012 - A 9 K 2917/11 - asyl.net: M19548
https://www.asyl.net/rsdb/M19548
Leitsatz:

Es bestehen schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den Kernanforderungen, die durch Bundeverfassungsgericht und EuGH festgestellt wurden, entspricht.

Schlagwörter: Italien, systemische Mängel. Asylverfahren, Dublin II-VO, Dublinverfahren, unmenschliche Behandlung, Versorgungslage, Obdachlosigkeit
Normen: AufenthG § 26a, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Abwendung seiner Abschiebung nach Italien ist bei sachdienlicher Auslegung nach § 123 VwGO statthaft. § 123 Abs. 5 VwGO steht dem nicht entgegen, denn ein Fall des § 80 VwGO liegt nicht vor. Der Entwurf des Bescheids des Bundesamts vom 19.05.2011, mit dem festgestellt wurde, dass dem Antragsteller aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittland kein Asylrecht zusteht und seine Abschiebung nach Italien angeordnet wird, wurde dem Prozessbevollmächtigten zwar offenbar mit Begleitschreiben des Bundesamts vom 20.05.2011 per Post übermittelt, eine wirksame Bekanntgabe dürfte in diesem Vorgang aber nicht zu sehen sein, denn gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG ist in den Fällen der §§ 26a und 27a AsylVfG die Entscheidung des Bundesamts zusammen mit der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG dem Ausländer selbst zuzustellen. Wird der Ausländer durch einen Bevollmächtigten vertreten, soll diesem gemäß § 31 Abs. 1 Satz 6 AsylVfG lediglich ein Abdruck der Entscheidung zugeleitet werden (vgl. GK-AsylVfG, 80 Okt. 2009, § 34a Rn. 42, 45). Die für die Bekanntgabe des Bescheids nach der gesetzlichen Konzeption unabdingbare Zustellung an den Antragsteller selbst ist offenbar noch nicht erfolgt.

Der somit allein statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist sachdienlich auf die Verpflichtung der Antragsgegnerin gerichtet, dem Regierungspräsidium Karlsruhe als der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Behörde mitzuteilen, dass der Antragsteller nicht nach Italien abgeschoben werden darf. Mit diesem Begehren ist der Antrag auch sonst zulässig. Insbesondere steht seiner Zulässigkeit § 36 Abs. 3 AsylVfG nicht entgegen, da kein Fall des § 36 Abs. 1 AsylVfG vorliegt. Zudem vermag § 34a Abs. 2 AsylVfG die Zulässigkeit des Antrags nicht auszuschließen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 26a AsylVfG ermittelt worden ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden; in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage in dem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.

Dies ist hier der Fall.

Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert, dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S. 953) sichergestellt ist. Diese Voraussetzung ist für Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich normiert, gilt aber aufgrund der gebotenen Wertungsgleichheit entsprechend auch für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für Letztere sind die aus den genannten Regelungen folgenden Verpflichtungen zudem unter anderem in der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten konkretisiert worden.

Die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des vorgenannten Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht, ist ein Sonderfall im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Eilrechtsschutz bleibt in diesen Ausnahmefällen möglich und zulässig (vgl. VG Gießen, Beschl. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A - JURIS, m.w.N.). Dem entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14.05.1996 klargestellt, dass die Ausschlussregelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG nur bei sinnentsprechender restriktiver Auslegung mit Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG in Einklang steht. Aufgrund des mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzepts normativer Vergewisserung könne sich der Ausländer daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass in seinem Einzelfall die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstünden, könne der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdränge, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen sei (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49). Mit seinen auf Griechenland bezogenen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung bestätigt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, 1281; Beschl. v. 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318). Schließlich ist auch nach Auffassung des EuGH (Urteil vom 21.12.2011 - verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 -, InfAuslR 2012, 108) trotz der Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der GFK und der EMRK steht, die Überstellung eines Asylbewerbers in einen Staat mit Art. 4 Grundrechtecharta unvereinbar, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

Einen solchen genannten Sonderfall hat der Antragsteller glaubhaft gemacht. Ihm steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite, da der Bescheid vom 19.05.2011 ebenfalls mit Begleitschreiben vom 20.05.2011 auch an das Regierungspräsidium Karlsruhe als für die Durchführung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde übersandt wurde.

Der Antrag ist auch begründet; denn es bestehen schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den oben zitierten Kernanforderungen entspricht. Dies ergibt sich bereits aus dem individuellen Vorbringen des Antragstellers, wonach er in Italien obdachlos und dadurch Kälte und Hunger ausgesetzt war. An der Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens hat das Gericht nach derzeitigem Erkenntnisstand keine durchgreifenden Zweifel. Aus den vorliegenden Akten ist zudem nicht erkennbar, ob dem Antragsteller in Italien tatsächlich ein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Allein die laut Protokoll erfolgte eigene Angabe ist dafür nicht ausreichend. Auch aus den bei seinem Aufgreifen in Koblenz mitgeführten italienischen Dokumenten, die nur für die Dauer von einem Jahr ausgestellt worden und bereits abgelaufen waren, ist nicht ersichtlich, ob der Antragsteller in Italien als Asylberechtigter oder Flüchtling anerkannt wurde oder Abschiebungsverbote festgestellt wurden. Daher ist im vorliegenden Verfahren des Eilrechtsschutzes davon auszugehen, dass das Asylverfahren des Antragstellers in Italien noch nicht abgeschlossen worden ist.

Die Darstellung des Antragstellers über seine Lebensumstände in Italien fügt sich nahtlos in das Bild ein, wie es sich aus zahlreichen Erkenntnisquellen ergibt, die in den - ebenfalls entsprechenden Eilanträgen stattgebenden - Beschlüssen der Verwaltungsgerichte Arnsberg (vom 18.03.2011 - 8 L 92/11.A -), Gießen (vom 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A -), Freiburg (vom 17.02.2012 - A 2 K 286/12 - und vom 24.01.2011 - A 1 K 117/11 -), Darmstadt (vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A -), Köln (vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A -) und Minden (vom 07.12.2010 - 3 L 625/10.A -) sowie in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 06.03.2012 - A 3 K 3069/11 - und in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 26.07.2011 - 9 A 346/10 - verwertet wurden und die auch das erkennende Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt. Dabei wird nicht verkannt, dass es bislang keine Empfehlung des UNHCR gibt, generell nicht nach Italien zu überstellen, wie dies bei Griechenland der Fall war. Die in den zitierten Gerichtsentscheidungen verwerteten Erkenntnisquellen mögen auch einer abweichenden Gewichtung und Würdigung zugänglich sein. Dementsprechend ist die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung auch uneinheitlich, worauf die Antragsgegnerin zutreffend hingewiesen hat. Gleichwohl spricht auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisquellen vieles dafür, dass der Antragsteller in Italien erneut der Gefahr von Obdachlosigkeit und mangelnder Versorgung ausgesetzt wäre und die gebotene Prüfung und Bescheidung seines Asylantrags nach Maßgabe der unionsrechtlichen Verfahrensgarantien nicht erreichen würde. Eine eingehende und abschließende Würdigung der Sach- und Rechtslage kann indessen nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erfolgen, sondern bedarf - gegebenenfalls nach einer Beweisaufnahme - einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren. [...]