VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 28.10.2009 - 4 K 752/09.Wi - asyl.net: M19633
https://www.asyl.net/rsdb/M19633
Leitsatz:

Nach § 36 Abs. 1 AufenthG besteht ein Anspruch auf Familienzusammenführung nicht nur für die Eltern unbegleiteter Minderjähriger, sondern auch für Eltern hier geborener (und als Flüchtlinge anerkannter) Minderjähriger, auch wenn beide Elternteile in Deutschland sind.

Schlagwörter: Familiennachzug, Familienangehörige, sorgeberechtigter Elternteil
Normen: AufenthG § 36 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2
Auszüge:

[..]

Der Kläger ist somalischer Staatsangehöriger und im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG.

Sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 1 AufenthG, gestützt auf die Asylberechtigung und daraus folgenden Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 2 AufenthG seiner beiden minderjährigen Töchter, wurde durch den vorliegend angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 30.04.2009, zugestellt am 22.05.2009, abgelehnt, weil sich § 36 Abs. 1 AufenthG nur auf Eltern minderjähriger anerkannter Flüchtlinge beziehe, die sich noch nicht im Bundesgebiet aufhielten.

Der Kläger hat am 17.06.2009 Prozesskostenhilfe für eine nach Bewilligung beabsichtigte Klage beantragt. Dem Prozesskostenhilfeantrag wurde mit Beschluss vom 16.07.2009 entsprochen. Am 26.07.2009 hat der Kläger Klage erhoben und gleichzeitig im Hinblick auf die verstrichene Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger vor, dass die Rechtsauffassung der Beklagten mit dem Gesetzeswortlaut nicht in Einklang zu bringen sei. Der Begriff "Familiennachzug" im Sinne der §§ 27 ff. AufenthG betreffe ungeachtet der gewählten Formulierung (Nachzug) nach einhelliger Rechtsprechung und Behördenpraxis nicht nur im Ausland aufenthältliche Familienangehörige, sondern auch und gerade bereits eingereiste Familienangehörige. Dies ergebe sich schon zwingend aus dem Umstand, dass eine Aufenthaltserlaubnis ohnehin immer nach der Einreise erteilt werden könne. Dass diese Einreise bereits zum Zwecke der Familienzusammenführung erfolgt sein müsse, lasse sich aus dem Wortlaut nicht herauslesen. Auch die in § 36 Abs. 1 AufenthG gewählte Formulierung, wonach die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, "wenn sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält", könne daher die Versagung nicht begründen. Die Formulierung könne natürlich nur gelesen werden, "wenn sich sonst kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält". Befänden sich wie hier im Zeitpunkt der Geburt und der Flüchtlingsanerkennung beide Eltern im Bundesgebiet, seien sie so zu behandeln wie zwei gleichzeitig eingereiste Elternteile. Die Anwesenheit der Mutter stehe daher der Erteilung an den Vater (und umgekehrt) nicht entgegen.

Mit der von der Gegenseite vorgenommenen Auslegung würde sich die Vorschrift selbst aufheben: Dem etwa mit Visum eingereisten Elternteil eines asylberechtigten Kindes müsste die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis dann ja immer versagt werden, weil sich im Zeitpunkt der Bescheidung "ein sorgeberechtigter Elternteil" (er selbst) hier aufhielt. Auch die Verlängerung einer nach § 36 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis käme grundsätzlich nicht in Betracht, wollte man der Auffassung der Gegenseite folgen: Nach § 8 Abs. 1 AufenthG setze die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass die Erteilungsvoraussetzungen (noch) vorliegen. Das wäre aber - folgte man der abwegigen Auffassung der Beklagten - wegen der Anwesenheit eines sorgeberechtigten Elternteils immer zu verneinen. Eine Gesetzesauslegung, mit der der Zweck verfolgt oder das Ergebnis erzielt werde, dass die Vorschrift keine Anwendung finde, verbiete sich.

Gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegende Auffassung sprächen auch noch weitere Aspekte:

Dass alle Grundsätze, die bei den anderen Nachzugsvorschriften in §§ 27, 28, 29, 30, 31 und 32 AufenthG mit rechtlicher Selbstverständlichkeit Anwendung fänden, bei § 36 AufenthG nicht gelten sollten, lasse sich nicht begründen, widerspreche dem Gesetzeswortlaut und widerspreche der Praxis der anderen Ausländerbehörden in völlig gleichgelagerten Fällen. Dass in der Gesetzesbegründung hervorgehoben werde, dass die Regelung vor allem unbegleitete Minderjährige im Blick habe, lasse keineswegs den Schluss zu, dass dies exklusiv gemeint sei. Im übrigen könne ein eindeutiger Gesetzeswortlaut weder von der Gesetzesbegründung noch von Anwendungshinweisen umgeschrieben werden. Es wäre im übrigen aber auch mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinbaren, wenn eine noch nicht eingereiste Mutter eines anerkannten minderjährigen Flüchtlings ein stärkeres Aufenthaltsrecht erhielte, als ein bereits eingereister und rechtmäßig aufenthältlicher Elternteil.

Die Versagung könne auch nicht auf Vorschriften der Familiennachzugsrichtlinie gestützt werden, da diese lediglich Mindeststandards festsetze.

Der begehrte Status dürfe dem Kläger auch nicht unter Verweis auf ein anderes verfügbares Bleiberecht vorenthalten werden. Wer seinen Aufenthalt auf verschiedene Anspruchsgrundlagen stützen könne, habe hinsichtlich des Aufenthaltstitels grundsätzlich ein Wahlrecht. Ein rechtliches Interesse bestehe bereits dann, wenn der angestrebte Aufenthaltstitel jedenfalls nicht schwächer ist, erst recht wenn er gegenüber dem zur Zeit vorhandenen vorteilhaft sein könnte. Der Vorteil des Titels nach § 36 AufenthG liege hier auf der Hand, weil er dem Kläger - im Gegensatz zu seinem derzeitigen Aufenthaltstitel - den Weg in die Einbürgerung eröffne. [..]

Die Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet, denn der Kläger hat einen Anspruch auf die beantragte Aufenthaltserlaubnis.

Zunächst war dem Kläger für die nach positiver Prozesskostenhilfentscheidung verfristet erhobene Klage Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Kläger war unverschuldet an der rechtzeitigen Klageerhebung gehindert, weil über den innerhalb der Klagefrist gestellten Prozesskostenhilfeantrag vor Ablauf der Klagefrist noch nicht entschieden war (§ 60 VwGO).

Die Klage ist auch begründet, weil der Kläger aus § 36 Abs. 1 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis hat. Das Gericht folgt in vollem Umfang der Argumentation des Klägerbevollmächtigten. Es besteht kein Anlass, § 36 Abs. 1 AufenthG bezüglich der Frage, ob der Antrag auch vom Inland aus gestellt werden kann, anders auszulegen als bei den übrigen Vorschriften des 6. Abschnitts des Aufenthaltsgesetzes über den Aufenthalt aus familiären Gründen, den Familiennachzug. Die zu enge Auslegung der Beklagten führt zu den vom Klägerbevollmächtigten dargestellten nicht auflösbaren Widersprüchlichkeiten. [..]