VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 23.05.2012 - 5 K 1370/11 - asyl.net: M19723
https://www.asyl.net/rsdb/M19723
Leitsatz:

Es besteht keine Gruppenverfolgung für Hazara in Afghanistan. Die Minderheit der Hazara wird traditionell in Afghanistan diskriminiert. Diese Diskriminierung erreicht jedoch nicht die Schwelle, bei der von einer Verfolgung der Hazaras im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG gesprochen werden kann.

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Schiiten, Verfolgung, Verfolgungsdichte, Uruzgan, ethnische Minderheiten, Minderheit, Ethnie, Taliban, Diskriminierung,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. a, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Nach Art. 10 Abs. 1 lit. a) und b) QRL umfasst der Begriff Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, der Begriff Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

Zutreffend hat das Bundesamt im angegriffenen Bescheid ausgeführt, dass für den Kläger eine Gewährung der Rechtsstellung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazaras ausscheidet.

Die Kammer hat bereits im Beschluss vom 10.02.2012, mit dem dem Kläger Prozesskostenhilfe versagt wurde, insoweit ausgeführt, dass der Kläger keine erlittene individuelle Verfolgung in Afghanistan geltend macht und deshalb wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der schiitischen Hazara heute einer gruppengerichteten Verfolgung unterliegen müsste, für deren Vorliegen es nicht nur unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Verfolgungsdichte keinen Anhaltspunkt gibt. Von den geschätzt 32 Millionen Einwohnern Afghanistans (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 09.02.2011, S. 30; vom 10.01.2012, S. 28) sollen ca. 38 Pashtunen, ca. 25 % Usbeken und ca. 19 % Hazaras sein (Lagebericht, S. 18). Das entspricht ca. 12,16 Mio. Pashtunen, ca. 8 Mio. Usbeken und ca. 6,08 Mio. Hazaras. "Probleme" mit Pashtunen und einem Teil der Hazaren begründeten noch nicht die Gefahr politischer Verfolgung. Diese Einschätzung, dass es im Verhältnis zur Anzahl der Hazaras in Afghanistan von mehr als 6 Millionen kaum dokumentierte Übergriffe gegen diese - auch zahlenmäßig gleich gebliebene - Volksgruppe gibt und deshalb die für die Annahme einer gruppengerichteten Verfolgung erforderliche Verfolgungsdichte fehlt, gilt nach wie vor.

Das Hauptsiedlungsgebiet der Hazaras liegt im zentralen Hochland Afghanistans, dem Hazarajat, und umfasst die Provinzen Bamyan, Uruzgan und Ghur sowie in Teilen die Provinzen Herat, Farh, Kandahar, Ghazni, Parwan, Baghlan, Balkh und Badghis. Aber auch in allen anderen Gebieten und insbesondere den Städten können Hazaras angetroffen werden (Sayed Askar Mousavi: The Hazaras of Afghanistan. An historical, cultural, economic and political study. New York 1997, S. XIII).

Uruzgan, die Heimatprovinz des Klägers, liegt im Süden Afghanistans, grenzt im Süden an die Provinzen Zabul und Kandahar, im Osten an Helmand, im Norden an Daykundi und im Westen an Ghazmi. Auf einer Fläche von ca. 12.640 qkm leben etwa 320.589 Personen (zum Vergleich: Thüringen hat 16.172 qkm und fast 2,3 Mio. Einwohner). Die Provinz Uruzgan gliedert sich in fünf Distrikte: Tarin Kot (Uruzgan Centre) - 109.712 Einwohner, Chora - 73.759 Einwohner, Khas Uruzgan - 37.888 Einwohner, Shahidi Hassas - 45.512 Einwohner und Dihrawud - 50.718 Einwohner. Fast 97 % der Bevölkerung lebt in ländlichen Gebieten. Die Provinz besteht zu zwei Dritteln aus Bergen und bergigem Gelände, umgeben von flachem Land, das von ein paar Flüsschen durchzogen wird, die meist in den großen Helmand-Fluss münden. Der Hauptteil der Bevölkerung beschäftigt sich mit Landwirtschaft und Viehzucht. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Durrani-Paschtunen und Hazara aus unterschiedlichen Stämmen. Unter den 13.293 Personen, die zwischen März 2002 und Januar 2009 zurückgekehrt sind, befinden sich 11.678 Paschtunen, 1.484 Hazaras, 77 Tadschiken, 14 Usbeken, 8 Balochen und 32 Personen mit anderer Volkszugehörigkeit (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen, April 2009, S. 85 ff. mit weiteren Nachweisen und Karten (etwa über die Verbreitung der Ethnien)).

Die Lage der ethnischen Minderheiten hat sich nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes seit dem Ende der Taliban-Herrschaft besonders für die traditionell diskriminierten Hazaras insgesamt verbessert, obwohl überbrachte Spannungen zwischen den Ethnien in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehen und auch immer wieder aufleben. Anzeichen für eine gezielte Verfolgung der Hazaras allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit lägen nicht vor (so auch: VG Arnsberg, Urteil vom 27.05.2010 - 6 K 3499/09.A: VG Augsburg, Urteil vom 27.04.2010 -Au 6 K 10.30030 -). Die Hazaras seien in der öffentlichen Verwaltung zwar noch immer stark unterrepräsentiert. Das scheine jedoch Ausfluss der früheren Marginalisierung zu sein und nicht auf gezielte Benachteiligung in der heutigen Zeit zurückzuführen sein (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 09.02.2011 und vom 10.01.2012 (508-516.80/3 AFG)). Das Gericht sieht keinen Anlass, an dieser Einschätzung zu zweifeln.

Den Angaben des Klägers zufolge ist die (komplette) Familie wegen der allgemeinen Unterdrückung der Hazara und den besonderen Problemen im Zusammenhang mit der Freundschaft des Vaters mit dem Mudjahedin-Kommandeur ... im Jahre 2000 - und damit während der von 1996 bis 2001 dauernden Gewaltherrschaft der Taliban - nach Quetta (Pakistan) ausgewandert, wo er bis zum Jahre 2007 geblieben sei. Dass die Angehörigen der schiitischen Hazara-Gemeinden in Pakistan insbesondere zu besonderen Feiertagen (wie dem Ashura-Fest) Angriffsziel sektiererischer Gewalt waren und sind, ergibt sich etwa aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes für Pakistan (vom 01.07.2011, S. 13). Für Afghanistan wiederum wird nur von gewaltsamen Auseinandersetzungen beim Ashura-Fest im Februar 2006 in Herat, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz (an der Grenze zu Iran und Turkmenistan), zwischen Sunniten und den sich hier in der Minderheit befindlichen Schiiten berichtet. Diese Vorgänge hätten Besorgnis ausgelöst, weil es in der Vergangenheit solche Auseinandersetzungen nicht gegeben habe. Regierung und Islamgelehrte hätten seinerzeit deeskalierend gewirkt, was offenbar nachhaltig Wirkung gezeigt habe: Seit 2007 sei die Lage am Ashura-Fest (landesweit) ruhig geblieben. Im afghanischen Kabinett waren die Hazara durch Vizepräsident Khalil und die amtierenden Minister of Higher Education, Danish, und Transportation, Najafi, vertreten (Lageberichte Afghanistan des Auswärtigen Amtes vom 09.02.2011, S. 19, und vom 10.01.2012, S. 16 f.; der Bericht vom 10.01.2012 enthält den letzten Satz nicht mehr.).

Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Hazaras in Afghanistan zwar (immer noch) traditionell diskriminiert werden, diese Diskriminierung aber bei Weitem nicht die Schwelle erreicht, um von einer "Verfolgung der Hazaras" im Verständnis von § 60 Abs. 1 AufenthG sprechen zu können.

Auch die Religionszugehörigkeit des Klägers, auf die er sich selbst auch gar nicht beruft, stellt kein durchgreifendes Kriterium dar, das ihn aus der afghanischen Gesellschaft ausgrenzt. Nach offiziellen Schätzungen sind in Afghanistan 85 sunnitische und 15 % schiitische Muslime. Wenn die Hazaras traditionell Schiiten sind, kann sich aufgrund dieser Prozentzahlen aus der Religionszugehörigkeit keine gesteigerte Gefahr ergeben, weil die schiitischen Muslime Hazaras sein müssen.

Die Voraussetzungen für das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft sind auch nicht wegen der Freundschaft des Vaters des Klägers mit dem (früheren) Mudjahedin-Kommandeur ... gegeben. Weder droht dem Kläger deswegen eine Verfolgung "wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" noch "wegen seiner politischen Überzeugung". Insoweit hat die Kammer im Beschluss vom 10.02.2012, mit dem die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt wurde, ausgeführt, dass es im Rechtssinne ausgeschlossen erscheine, dass dem Kläger wegen der Freundschaft seines Vaters mit einem Kommandeur der Mudjaheddin heute asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen drohen sollten. Der Bürgerkrieg der Mudjaheddin-Gruppen fand nach dem Ende der Besatzung durch die Sowjetunion (1979 - 1989) zwischen 1992 und 1996 statt und wurde durch die Gewaltherrschaft der Taliban (1996 - 2001) beendet. Die Familie des Klägers hat Afghanistan im Jahre 2000 verlassen und fortan in Pakistan und im Iran gelebt. Angesichts der aktuellen Probleme der Bevölkerung in Afghanistan spricht nichts für die Einschätzung des 21 Jahre alten Klägers, ihm drohe 16 Jahre nach Beginn und 11 Jahre nach Ende der Taliban-Herrschaft Sippenhaft im Hinblick auf die Aktivitäten seines Vaters für die Mudjaheddin vor mehr als 16 Jahren. Ein solcher Kausalzusammenhang ist auch unter Berücksichtigung der Verhältnisse in Afghanistan mehr als fern liegend. Zu den ehemaligen Kommunisten heißt es etwa im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 09.02.2011 auf Seite 16 (und im Lagebericht vom 10.01.2012, S. 14), dass diese in der Regel versuchten, ihre Vergangenheit zu verbergen, gleichwohl noch zu einem Großteil weiterhin in der afghanischen Politik aktiv seien.

Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung (erstmals) davon berichtet hat, dass ein Onkel väterlicherseits von Quetta (Pakistan) aus nach Afghanistan zurückgekehrt sei und man seine Leiche später zerstückelt in einem Sack gefunden habe, lässt das den Schluss auf eine Gefährdung des Klägers nicht zu. Insoweit hat der Kläger selbst erklärt, dass diese Tötungsart nicht der der Taliban entspreche, vielmehr vom "Begleichen einer alten, noch offenen Rechnung" zwischen dem Onkel und seinen Mördern ausgegangen werden müsse. Eine solche "offene Rechnung" zwischen dem Kläger, der Afghanistan im Alter von neun Jahren verlassen hat, und irgendwelchen in der Provinz Uruzgan verbliebenen Afghanen ist indes weder vorgetragen noch erkennbar. Dass alle Angehörigen seiner Großfamilie aufgrund einer jedenfalls jetzt mehr als 12 Jahre alten "offenen Rechnung" mit dem Tode bedroht sind, erscheint - zumal der Kläger ausweislich seiner Angaben in der mündlichen Verhandlung selbst u.a. deshalb keine Vorstellung über die Größe seiner Familie hat, weil der Familienname in Afghanistan früher keine Rolle gespielt hat - mehr als fraglich. Zwar sind nach Nummer 27 der (Vor-) Erwägungen der QRL Familienangehörige aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann. Allerdings vermag das Gericht gerade nicht festzustellen, dass der Vater des Klägers wegen seiner Freundschaft zum früheren Mudjahedin-Kommandanten ... aktuell als Flüchtling im Verständnis der QRL einzustufen wäre. Immerhin heißt es insoweit im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 (auf Seite 9), dass sich die Ex-Mujaheddin-Parteien im Rahmen des Registrierungsprozesses beim Justizministerium auf ihre etablierten Machtstrukturen sowie erhebliche - auch illegale - finanzielle Ressourcen stützen könnten, und derzeit Interessenvertreter lokaler Machthaber seien. [...]