VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 24.01.2012 - 6 K 622/11 - asyl.net: M19739
https://www.asyl.net/rsdb/M19739
Leitsatz:

Bei einer Person aus der Türkei, die vor ihrer Ausreise einen PKK-Verdacht auf sich gezogen hat, besteht Rückkehrgefährdung.

Schlagwörter: Türkei, Flüchtlingsanerkennung, Vorverfolgung, PKK, Newrozfest, Abdullah Öcalan, Folter, Unterstützung, Kurden,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Die Entscheidung, den Kläger nicht als politischen Flüchtling anzuerkennen, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Dabei ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (- sogenannte Qualifikationsrichtlinie - Amtsbl. EG L 304 S. 12 ff.), der gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG Anwendung findet, die Tatsache, dass ein Schutzsuchender bereits verfolgt wurde bzw. von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Schutzsuchende erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Zur Privilegierung des Vorverfolgten normiert Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei seiner Rückkehr erneut realisieren werden. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie kann zwar widerlegt werden. Hierfür ist aber erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, bei juris).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen einer Vorverfolgung. Aufgrund seiner glaubhaften Schilderung der Ereignisse steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass er vor seiner Ausreise dreimal von den türkischen Sicherheitskräften verhaftet wurde. Erstmals wurde er im Jahr 2008 anlässlich einer Protestveranstaltung in Gaziantep, bei der es um die Behandlung von Abdullah Öcalan in der Haft ging, festgenommen, auf die Wache gebracht und mehrere Stunden lang befragt. Am 04.04.2009, anlässlich der Geburtstagsfeier von Abdullah Öcalan, wurde er bei einem Polizeieinsatz verhaftet, zwei Tage lang festgehalten und gefoltert. Dabei wurde ihm der Vorwurf gemacht, der PKK anzugehören. Des Weiteren versuchten die Sicherheitskräfte, den Kläger durch Misshandlungen zur Preisgabe von Informationen über die Befehlsstruktur innerhalb der PKK zu bewegen. Anlässlich des Newrozfestes im März 2011 wurde der Kläger, als er die Feier verließ, erneut festgenommen, beschimpft und geschlagen. Dabei wurde wiederum versucht, über ihn an Informationen über die PKK und ihre Nachfolgeparteien zu gelangen.

Dieser Sachverhalt steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der überzeugenden, detaillierten, anschaulichen und daher insgesamt glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Der Kläger war auch auf Nachfragen des Gerichts stets in der Lage, seine Angaben zu ergänzen bzw. zu präzisieren. Er vermittelte durchweg den Eindruck, dass er tatsächlich Erlebtes berichtete. Angesichts dessen kommt den seitens des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung angeführten Widersprüchen kein solches Gewicht zu, dass sie auf die Unglaubwürdigkeit des Klägers schließen lassen würden.

Die erlittene politische Verfolgung lässt die Furcht des Klägers vor Verfolgung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie als begründet erscheinen. Diese Annahme ist nicht durch stichhaltige Gründe entkräftet.

Das Gericht geht davon aus, dass Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten sind, bei einer Rückkehr im Rahmen von (erneuten) polizeilichen Ermittlungen in der Türkei mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen müssen, die darauf abzielen, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar sind. Solche Maßnahmen drohen ungeachtet dessen, ob dem Rückkehrer tatsächlich eine strafrechtliche Verfolgung droht (vgl. die Urteile der Kammer vom 22.08.2011 - 6 K 710/10 -, vom 17.07.2007 - 6 K 86/06.A -, und vom 16.11.2006 - 6 K 73/05.A - jeweils m.w.N.; siehe auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.10.2011 - 10 A 10416/11 -; sowie OVG des Saarlandes, Urteile vom 03.04.2008 - 2 A 312/07 -, vom 28.09.2005 - 2 R 2/05 - und vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 - ; sowie dessen Beschlüsse vom 29.04.2003 - 2 Q 116/03 - und vom 10.04.2003 - 2 Q 110/03 -).

Hieran ist, wie etwa das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes in dem erwähnten Urteil vom 03.04.2008 - 2 A 312/07 - im Einzelnen ausgeführt hat, trotz der neueren politischen Entwicklung in der Türkei festzuhalten. Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten linksorientierter bzw. separatistischer kurdischer Organisationen bekannt geworden sind, sind in der Türkei jedenfalls im Stadium polizeilicher Vernehmungen nicht nur in Einzelfällen Maßnahmen unterworfen, die weit über das übliche Schlagen und Treten hinausgehen und als Folter bezeichnet werden müssen und die sich der türkische Staat auch zurechnen lassen muss, weil er das pflichtwidrige Handeln der Polizeibeamten nicht in dem erforderlichen und ihm möglichen Maße bekämpft. Auch wenn sich nach der Erkenntnislage die Zahl der Menschenrechtsverstöße in Form von Folter und Misshandlungen im Rahmen der so genannten "Null-Toleranz-Politik" der türkischen Regierung vermindert haben dürfte, haben die Reformbestrebungen bislang jedenfalls keine nachhaltige grundlegende Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in hinreichendem Ausmaß zu bewirken vermocht (vgl. auch die Urteile der Kammer vom 22.08.2011 - 6 K 710/10 -, vom 13.05.2009 - 6 K 599/08 - und vom 13.11.2008 - 6 K 631/07).

So ist in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes etwa davon die Rede, dass willkürliche Festnahmen nach wie vor vorkommen und das Problem der Folter noch nicht endgültig gelöst ist. Insbesondere ist die Straflosigkeit in Folterfällen weiterhin ein ernstzunehmendes Problem (vgl. etwa den Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 08.04.2011).

Der türkischen Regierung ist es bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kam es bis in die jüngste Zeit zu übermäßiger Gewaltanwendung. Es gibt zudem Anzeichen dafür, dass die im Falle einer Festnahme vorgesehenen gesetzlichen Schutzinstrumentarien zuweilen unbeachtet bleiben. Die Ahndung von Misshandlung und Folter ist ebenfalls noch nicht zufrieden stellend (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 25.08.2011 - 3 A 34/10 -, unter Hinweis auf: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8.4.2011, S. 7 ff.; Schweizer Flüchtlingshilfe, Helmut Oberdiek, Türkei, update: Aktuelle Entwicklungen, 9.10.2008; Fortschrittsbericht Türkei der EU vom 6.11.2007; ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010).

In eine solche Foltergefahr könnte auch der Kläger im Falle seiner Rückkehr geraten. Auf Grund seiner mehrfachen Festnahmen steht zu befürchten, dass der Kläger vor der Ausreise einen PKK-Verdacht auf sich gezogen hat. Von daher läuft er anlässlich der Rückkehrerüberprüfung Gefahr, weiteren Ermittlungen unterworfen zu werden. Nach einer Auskunft von Amnesty International an das OVG des Saarlandes vom 31.01.2011 sei anzunehmen, dass bei einer Einreise eines ehemaligen Asylsuchenden in die Türkei in der Regel bei den Polizeibehörden des Heimatortes nachgefragt werde, ob gegen die betreffende Person etwas vorliegt, und der Betreffende solange in Polizeihaft gehalten werde. In dieser Zeit würde auch die Gefahr von Misshandlungen bestehen. Dies gelte vor allem bei Kurden, bei denen die türkische Polizei generell zu dem Verdacht tendiere, es handele sich um Unterstützer der PKK.

Ausgehend davon ist im vorliegenden Fall zu befürchten, dass die gegen den Kläger vor seiner Ausreise wegen vermuteter Unterstützung der PKK erfolgten Festnahmen anlässlich der Rückkehrerüberprüfung, der sich alle Rückkehrer unterziehen müssen und bei der wie ausgeführt auch Rückfragen in der Heimatregion des Rückkehrers durchgeführt werden, erwähnt werden und er infolge dessen erneut ins Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten wird. Da die PKK in der Türkei nach wie vor als die stärkste der dem Staat gefährlichen Kräfte eingeschätzt wird (vgl. im Zusammenhang mit exilpolitischen Aktivitäten, VG des Saarlandes, Urteil vom 03.12.2008 - 6 K 1059/07 - m.w.N.), sind anschließende Verhöre mit der Gefahr von Misshandlungen (vgl. Kaya, Gutachten an VG Sigmaringen vom 26.09.2007).

Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger eingehend zu vermuteten Unterstützungshandlungen und Kontakten zur PKK vor der Ausreise und zu möglichen Aktivitäten und Kontakten in Deutschland befragt wird. Dabei würde für den Kläger die Gefahr erneuter Folter und Misshandlung bestehen. Es gehört nach wie vor zur Methodik der Sicherheitskräfte in der Türkei, dass Personen bei Verhören physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind. Jeder, der sich an Aktionen der PKK beteiligt hat, gilt grundsätzlich als "Staatsfeind" bzw. als "Terrorist" (vgl. Kaya, Gutachten an OVG Mecklenburg- Vorpommern vom 14.06.2010). [...]