VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 23.01.2012 - W 2 K 11.30265 - asyl.net: M19818
https://www.asyl.net/rsdb/M19818
Leitsatz:

1. In der Provinz Ghazni herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, der für besonders schutzbedürftige Personen zu einer erheblichen individuellen Gefahr führt (hier für eine Familie mit vier Kindern).

2. Personen ohne familiäre oder verwandtschaftliche Strukturen bzw. ohne soziales Netzwerk und mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kindern, Familien und Personen mit besonderen ethischen oder religiösen Merkmalen haben keine Möglichkeit, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen.

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Ghazni, Kabul, Abschiebungsverbot, Angehöriger der Zivilbevölkerung, Zivilbevölkerung, erhebliche individuelle Gefahr, willkürliche Gewalt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Dem gegenüber hat die Klage mit dem hilfsweise geltend gemachten Begehren, die Beklagte unter insoweitiger Aufhebung des Bescheides vom 26. Juli 2011 zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 VwGO hinsichtlich Afghanistan vorliegt, Erfolg. [...]

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Vorschrift ist in Umsetzung von § 15c QRL geschaffen worden. Die Tatbestandsvoraussetzung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist daher im Licht des Art. 15c QRL zu sehen, wonach als ernsthafter Schaden eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gilt. Die Regelung umfasst also subsidiäre Schutzgewährung in Fällen willkürlicher Gewalt im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, nicht dagegen aber aus anderen Gründen wie z.B. krankheitsbezogenen Abschiebungshindernissen oder allgemeinen wirtschaftlichen Notlagen im Herkunftsland, die nicht auf einem bewaffneten Konflikt beruhen. [...]

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 28.10.2009, 27.07.2010 und 09.02.2011) finden in weiten Teilen Afghanistans mit Schwerpunkt Süden, Südwesten, Südosten, Osten und Teilen des Nordens gewalttätige Auseinandersetzungen statt. Die Lage ist weder sicher noch stabil. In den letzten Jahren war ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen, wobei im Bericht vom 9. Februar 2011 von diesbezüglichen Anzeichen für eine Trendwende berichtet wird. Die Sicherheitslage wird in den einzelnen Regionen unterschiedlich dargestellt. Dem Raum Kabul wird eine diesbezügliche Verbesserung bescheinigt; im Süden und Südosten, insbesondere in den Regionen Helmand, Kandahar, Uruzgan, Kunar, Nuristan und Khost ereignen sich vielfach Kämpfe. Gleichwohl sieht das Auswärtige Amt Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Der Westen und der Norden des Landes sind vergleichsweise ruhig. Einer möglichen Gefährdung können nur diejenigen Personen ausweichen, die andernorts entsprechend familiär und sozial vernetzt sind.

Der UNHCR fordert subsidiären Schutz für Personen aus Gegenden, in denen verschiedene Ausprägungen willkürlicher Gewalt anzutreffen sind. Verschiedene im Einzelnen genannte Provinzen werden als unsicher eingestuft (Bericht vom 06.10.2008). In der Stellungnahme vom 30. November 2009 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Anlage wird von einem sich intensivierenden bewaffneten Konflikt mit damit einhergehenden schwerwiegenden und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen berichtet. Im Jahr 2008 und bis zum Mai 2009 stieg die Anzahl ziviler Opfer deutlich an. Der Süden und Südosten ist am stärksten von schweren Kämpfen betroffen. Besonderer Schutzbedarf ist bei verschiedenen im Einzelnen genannten Gruppen anzunehmen.

Amnesty International (Report 2011 und 2010) berichtet von bewaffneten Auseinandersetzungen und damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen zunehmend im gesamten Land. Die Zahl der von aufständischen Gruppen getöteten Zivilpersonen hat deutlich zugenommen. Gemäß der Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 20.12.2010) hat sich die Sicherheitslage landesweit erneut dramatisch verschlechtert.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Updates vom 21.08.2008, 26.02.2009, 11.08.2009, 06.10.2009, 11.08.2010 und 23.08.2011) berichtet von einer dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage in 2010 und 2011 im ganzen Land, insbesondere im Süden. Helmand, Kandahar, Kunar und Teile von Ghazni und Khost werden als Gebiete genereller Gewalt eingestuft. Viele im Einzelnen genannten Gruppen sind besonders gefährdet. Hierzu gehören z.B. Frauen, Kinder, Lehrer, Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte und Angehörige ethnischer Minderheiten.

Nach dem Bericht von D-A-CH Kooperation Asylwesen vom 21. März 2011 ist die Sicherheitslage regional sehr unterschiedlich. Neben Gebieten mit hohen Anschlagszahlen befinden sich Gebiete, in denen es kaum zu Gewalt kommt.

UNAMA gibt in Halbjahresberichten und Jahresberichten (Afghanistan Mid-year Report 7/2009, 8/2010, 7/2011; Annual Report 1/2009, 1/2010, 3/2011) die Anzahl der getöteten und verletzten Zivilisten an. Hierbei ist eine deutliche Steigerung im Verlauf der letzten zwei Jahre zu verzeichnen.

Das ANSO stellt in vierteljährlichen Berichten (zuletzt 1/2011 und 2/2011) die Entwicklung des Konflikts dar und beurteilt die Sicherheitslage in den afghanischen Provinzen auf einer fünfstufigen Skala von low insecurity bis extremely insecure. Insbesondere zwölf verschiedene Provinzen im Süden, Südosten und Osten des Landes werden als extremely insecure beurteilt, während es im Jahr 2009 noch sechs waren.

Dr. Mostafa Danesh berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010) von im Einzelnen genannten Anschlägen von Taliban-Kämpfern in Kabul und von besonders schweren bewaffneten Konflikten in der Provinz Logar, bei denen viele Zivilisten ums Leben kommen.

Die Bewertung dieser Auskunftslage ergibt, dass in erheblichen Teilen Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ausgegangen werden muss. Die in diesem Rahmen stattfindenden Auseinandersetzungen sind als willkürliche Gewalt einzustufen. Hierbei ist es unerheblich, wie dieser Begriff zu verstehen ist (vgl. BVerwG vom 24.06.2008, Az. 10 C 43.07 <juris>, RdNr. 36; EuGH vom 17.02.2009, Az. Rs C-465/07 Abl. EU vom 18.04.2009 C 90/4 RdNr. 35). Einerseits wird er verstanden als nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheidende unterschiedslose Angriffe sowie als Anschläge, die nicht auf die bekämpfte Konfliktpartei gerichtet sind, sondern die Zivilbevölkerung treffen sollen, ferner als Gewaltakte, bei denen die Mittel und Methoden in unverhältnismäßiger Weise die Zivilbevölkerung treffen. Nach anderer Ansicht soll das Merkmal der willkürlichen Gewalt definiert werden als wahllos stattfindende Gewalt gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität.

Wie die genannten Auskünfte ergeben, halten sich die Konfliktparteien mit Ausnahme der internationalen Truppen nicht an die Regeln des humanitären Völkerrechts. Sie unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die unterschiedlichen Milizen sowie die Taliban suchen gerade nicht den Kampf mit den regulären Truppen. Vielmehr agieren sie z.B. mit Sprengstoffanschlägen gerade gegen die Zivilbevölkerung, um hier ihre Opfer zu finden. Zudem tarnen sie sich als Zivilisten und provozieren hierdurch Angriffe der Gegenseite, die als Folge auch Unschuldige treffen. Damit liegen unterschiedslose Angriffe vor. Die fehlende Zielgerichtetheit der Angriffe ergibt sich daraus, dass gerade Angriffe auf Zivilpersonen und humanitäre Organisationen ein allgemeines Klima der Angst hervorrufen sollen. Hierzu werden Attentate eingesetzt, die möglichst viele Opfer zur Folge haben sollen.

Allerdings ist die Lage hinsichtlich der unterschiedlichen Provinzen differenziert zu sehen. Nicht in allen Teilen Afghanistans ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in diesem Sinne auszugehen, bei denen wahllos stattfindende Gewalt insbesondere die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht {(bejahend: HessVGH vom 11.12.20008, Az. 8 A 611/08.A <juris> für die Provinz Paktia; VG Kassel vom 01.07.2009, Az. 3 K 206/09.KS.A <juris> für den Süden und Südosten des Landes; VG Ansbach vom 03.03.2011, Az. AN 11 K 10.30505 <juris> für die Provinz Helmand; VG Augsburg vom 10.06.2011, Az. AU 6 K 10.30644 <juris> für die Provinz Kandahar; VG Gießen vom 20.06.2011, Az. 2 K 499111.GI.A, Asylmagazin 2011, 235 insbesondere für die Provinz Maidan-Wardak, aber auch allgemein für das ganze Land; verneinend: VG Osnabrück vom 16.06.2009, Az. 5 A 48/09 <juris> für die Stadt Herat; VG Kassel vom 01.07.2009, Az. 3 K 206/09.KS.A <juris> für den Großraum Kabul; VG des Saarlandes vom 26.11.2009, Az. 5 K 623108 <juris> für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 16.12.2009, Az. AN 11 K 09.30327 <juris> für Stadt und Distrikt Kabul; VG Regensburg vom 15.04.2010, Az. RN 9 K 09.30075 <juris> ohne regionale Differenzierung; BayVGH vom 03.02.2011, Az. 13a B 10.30394 <juris> für die Provinzen Parwan und Kabul; VG Augsburg vom 24.02.2011, Az. AU 6 K 09.30134 <juris> für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 04.08.2011, Az. AN 11 K 11.30262 <juris> für die Provinz Herat).

Auf der Grundlage dieser Auskunftslage unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung muss davon ausgegangen werden, dass in der Provinz Ghazni ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, der zumindest für die Kläger als besonders schutzbedürftige Personen zu einer erheblichen individuellen Gefahr führt. [...] Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei den Klägern um besonders schutzbedürftige Personen handelt. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass sie zur Volksgruppe der Hazara gehören, die trotz nennenswerter Bestrebungen der Regierung, gegen historische ethnische Spannungen vorzugehen, weiterhin einem gewissen Grad an Diskriminierung ausgesetzt ist (vgl. im Einzelnen die vom Klägerbevollmächtigten eingeführte Unterlage UNHCR - Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011 Ziffer 3 A.10). Zudem ergibt sich die besondere Schutzbedürftigkeit der Kläger daraus, dass es sich um eine Familie mit vier Kindern handelt, die der wahllosen Gewalt hilfloser als alleinstehende Erwachsene gegenüber stehen und entsprechende Gefahren nicht adäquat einschätzen können.

Die Kläger haben auch keine interne Schutzmöglichkeit. In Betracht käme hier lediglich der Großraum Kabul.

Nach Art. 8 Abs. 1 QRL benötigt ein Schutzsuchender keinen internationalen Schutz, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden besteht und von dem Schutzsuchenden vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Dabei sind nach Art. 8 Abs. 2 QRL die allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände (vgl. Art. 4 Abs. 3 c QRL) des Schutzsuchenden zu berücksichtigen. Der Schutzsuchende muss am Zufluchtsort aber eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden, d.h. es muss zumindest in faktischer Hinsicht das Existenzminimum gewährleistet sein, was er unter persönlich zumutbaren Bemühungen sichern können muss. Dies gilt auch, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Darüber hinaus ist es auch erforderlich, dass das Zufluchtsgebiet erreichbar ist.

Auf dieser Grundlage stellt sich die Situation in Afghanistan bzw. im Großraum Kabul wie folgt dar:

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 28.10.2009, 27.07.2010 und 09.02.2011) führt die verbreitete Armut landesweit vielfach zu Mangelernährung, auch wenn die Ernten 2009 und 2010 besser ausgefallen sind als im Jahr 2008. In den Städten ist die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen schwierig. Die medizinische Versorgung ist unzureichend. Die soziale Absicherung liegt traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Die für eine geordnete Rückkehr der Flüchtlinge angelegten so genannten townships sind für eine permanente Ansiedlung kaum geeignet.

Hinsichtlich der medizinischen Versorgung berichtet die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland (Auskunft vom 29.04.2009 an VG Hamburg), dass diese in den ländlichen Gebieten oftmals nicht gewährleistet ist, während sich die Lage in größeren Städten verbessert. Die kostenlose Medikamentenversorgung ist sehr eingeschränkt.

Nach der Auskunft des UNHCR (vom 30.11.2009 an den BayVGH) bilden die Familien- und Gesellschaftsstrukturen den vorwiegenden Schutzmechanismus. Hierauf sind die Afghanen angewiesen. Eine Ansiedlung ist nur denkbar, wenn entsprechender Schutz durch die eigene erweiterte Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gewährleistet ist. Ein starker Anstieg der Lebensmittelpreise und Arbeitslosigkeit stellen vor allem für gering Qualifizierte ein Problem dar, eine Existenz aufzubauen. Hinzu kommen Knappheit an Lebensmitteln, ein mangelhaftes Gesundheitssystem und in Kabul die extrem hohen Wohnungskosten. Rückkehrer aus westlichen Staaten können wegen ihrer westlichen Lebensweise in erhöhtem Maße gefährdet sein.

Nach den Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (21.08.2008, 26.02.2009, 11.08.2009, 06.10.2009, 11.08.2010 und 23.08.2011) können wegen der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit viele Menschen nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Wohnungsknappheit, fehlender Zugang zu Trinkwasser und zu medizinischer Versorgung erschweren die Lage. Ohne eine Familien- und Gemeinschaftsstruktur als wichtigstes Netz für Sicherheit und das ökonomische Überleben ist eine Existenz kaum möglich.

Dr. Mostafa Danesh berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010), dass alleinstehende Rückkehrer in Afghanistan keinerlei Aussicht haben, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Insbesondere ältere Männer (ab 40 Jahre) haben keinerlei Chance auf einen Arbeitsplatz. Ein soziales Netz in Form der Großfamilie ist überlebensnotwendig. Weiterhin beschreibt Dr. Danesh Lebensmittelknappheit.

Peter Riek (Stellungnahme vom 15.01.2008 an OVG Rheinland-Pfalz) berichtet, dass offene Arbeitsstellen meist Kräften mit höherer Schulbildung vorbehalten sind. Einfachere Arbeiten werden aufgrund persönlicher Kontakte vergeben. Alleinstehende, arbeitsfähige, wenig qualifizierte männliche Afghanen ohne Verwandte haben nur geringe Chancen auf eine dauerhafte Erwerbsmöglichkeit. Damit können auch Unterkunft und Lebensunterhalt nicht gesichert werden.

Dem entspricht die Stellungnahme von Dr. Bernt Glatzer (vom 31.01.2008 an das OVG Rheinland-Pfalz), der die Gefahr für Rückkehrer, wegen der schlechten Versorgungs- und Erwerbsmöglichkeiten in Kabul das zum Leben Notwendige nicht zu erlangen, als sehr hoch einschätzt. Außerhalb Kabuls ist die Arbeitsmarktsituation hiernach noch ungünstiger.

Die Bewertung dieser Auskünfte durch die Gerichte ist unterschiedlich (vgl. statt vieler z.B. VG Sigmaringen vom 16.03.2006, Az. A 2 K 10668/05 <juris>; VG München vom 16.10.2007, Az. M 23 K 06.51077 <juris>; VG des Saarlandes vom 26.11.2009, Az. 5 K 623/08 <juris>; VG Ansbach vom 04.08.2011, Az. AN 11 K 11.30262 <juris>; VG Augsburg vom 05.04.2011, Az. AU 6 K 10.30152 <juris>; BayVGH vom 03.02.2011, Az. 13a B 10.30394 <juris> jeweils m.w.N.).

Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass Personen ohne familiäre oder verwandtschaftliche Strukturen bzw. ohne soziales Netzwerk und mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kindern, Familien und Personen mit besonderen ethischen oder religiösen Merkmalen keine Möglichkeit haben, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen.

Demgegenüber haben alleinstehende, junge, arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut sind oder über familiäre bzw. soziale Netzwerke verfügen oder ausgeprägte berufsbezogene Fähigkeiten besitzen, zumindest die Möglichkeit, sich eine neue Existenz aufzubauen. [...]

Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass die Kläger keine Möglichkeit haben, sich im Großraum Kabul einer - wenn auch minimale - Existenz aufzubauen. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Kläger - wie sie glaubhaft dargestellt haben - versucht haben, im Großraum Kabul zu leben, hier jedoch an einer fehlenden wirtschaftlichen Grundlage gescheitert sind. So hat die Klägerin zu 2) vor dem Bundesamt berichtet, die Familie habe zeitweise in einer Zweizimmerwohnung, zeitweise in einer Einzimmerwohnung gewohnt, diesen Wohnraum jedoch nicht finanzieren können. Dies ist auf der Grundlage der Erkenntnis, dass Wohnraum in Kabul sehr teuer ist, und angesichts der Tatsache, dass das vom Kläger zu 1) erarbeitete Gehalt auch für den Unterhalt der gesamten sechsköpfigen Familie benötigt wurde, nachvollziehbar. Zudem wird die Problematik der Existenzsicherung auch dadurch deutlich, dass sich die Kläger aufgrund zu geringer Existenz sichernder Mittel dazu entschieden haben, in die Provinz Ghazni ins eigene Haus auszuweichen und damit das Risiko auf sich zu nehmen, Opfer des dort herrschenden innerstaatlichen Konflikts zu werden. Es ist nachvollziehbar, dass eine derartige Entscheidung nur unter existenziellem wirtschaftlichem Druck getroffen wird.

Zudem ist es auf der Grundlage der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünfte und der oben dargestellte Wertung erkennbar, dass eine sechsköpfige Familie mit nur einem Verdienst im Großraum Kabul wirtschaftlich nicht existieren kann. Auch die im vorliegenden Fall vorhandene Verwandtschaft kann hierbei nicht weiter helfen. Denn in erster Linie geht es bei der Berücksichtigung verwandtschaftlicher Verhältnisse nicht darum, dass der Schutzsuchende dauerhafte wirtschaftliche Unterstützung erhält. Dies ergibt sich daraus, dass auch die in Kabul lebenden Verwandten von Schutzsuchenden unter normalen Umständen wirtschaftliche Existenzschwierigkeiten haben und deshalb zu einer dauerhaften Unterstützung von nach Afghanistan zurückkehrenden Verwandten nicht in der Lage sind. Im vorliegenden Fall existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass die Verwandtschaft der Kläger besonders begütert wäre. Vielmehr muss der Vorteil verwandtschaftlicher Strukturen darin gesehen werden, dass mit deren Hilfe Rückkehrer leichter eine aus eigenen Mitteln zu finanzierende Wohnung finden und leichter eine Arbeit aufnehmen können. Dies kann jedoch im vorliegenden Fall - wie oben dargestellt - nicht zur wirtschaften Existenzsicherung der Kläger führen.

Hinzu kommt, dass der Kläger zu 1) bereits 42 Jahre alt ist und damit die Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden, trotz seiner Ausbildung als Bäcker/Konditor aufgrund seines Alters als gering erscheinen.

Zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass die Kläger zum Volk der Hazara gehören, die - wie oben dargestellt - einer gewissen Diskriminierung auch in Kabul unterliegen.

All dies zusammen genommen führt zu der Erkenntnis, dass die Kläger im Großraum Kabul keine zumutbare interne Schutzmöglichkeit finden können. [...]