LSG Bayern

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Zitieren als:
LSG Bayern, Beschluss vom 14.08.2012 - L 16 AS 568/12 B ER - asyl.net: M20004
https://www.asyl.net/rsdb/M20004
Leitsatz:

Es spricht viel dafür, dass der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf eine spanische Staatsangehörige deswegen nicht anwendbar ist, weil sie sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen kann.

Es ist zweifelhaft, ob die Regierung der Bundesrepublik Deutschland einen Vorbehalt gem. Art. 16 b Satz 2 EFA ohne Beteiligung der Legislative wirksam erklären konnte.

Schlagwörter: Spanien, spanische Staatsangehörige, Europäisches Fürsorgeabkommen, hilfebedürftig, erwerbsfähig, gewöhnlicher Aufenthalt, Vorbehalt, Beteiligung der Legislative, Leistungsausschluss, Arbeitslosengeld, Sozialleistungen, Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1, SGB II § 7a, SGB II § 9 Abs. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, EFA Art. 1, EFA Art. 16a, EFA Art. 16 Bst. b,
Auszüge:

[…]

Der Senat erlässt die einstweilige Anordnung, weil er es für möglich hält, dass die Beschwerdeführer einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II haben.

Die Beschwerdeführerin zu 1) erfüllt die Leistungsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht; sie ist erwerbsfähig, hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und ist hilfebedürftig im Sinn des § 9 Abs. 1 SGB II. Da sie als Spanierin Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats ist und damit einen genehmigungsfreien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt hat, greift die Fiktion der Erwerbsunfähigkeit gemäß § 8 Abs. 2 SGB II nicht. Für die Beschwerdeführer zu 2) bis 4), die minderjährigen, zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Kinder der Beschwerdeführerin zu 1), ergibt sich der Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung aus § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann nicht abschließend beurteilt werden, ob die Beschwerdeführerin zu 1) als spanische Staatsangehörige zum Kreis der ausgeschlossenen Ausländer nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gehört. Ernstlich in Betracht zu ziehen ist der Ausschlussgrund gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen vom Kreis der Leistungsberechtigten ausgenommen sind. Die Ausschlussgründe gemäß § 7 Abs. 1. Satz 2 Nr. 1 und Nr. 3 SGB II scheiden von vornherein aus, weil die Beschwerdeführer seit Dezember 2009, also länger als drei Monate, in der Bundesrepublik leben und nicht leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind.

Aus Sicht des Senats spricht viel dafür, dass der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf die Beschwerdeführer deswegen nicht anwendbar ist, weil sie sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11.12.1953 berufen können. Nach Art. 1 EFA, das u.a. die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Spanien unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Beim Europäischen Fürsorgeabkommen handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht, das für Staatsangehörige der Vertragsstaaten weiterhin anzuwenden ist, ohne dass das koordinierende Sekundärrecht der Europäischen Union entgegenstehen würde (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R). Bei der Regelleistung nach § 20 SGB II handelt es sich um "Fürsorge" im Sinn des Art. 1 EFA (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, Juris 32 ff.). Ausweislich der am 29.06.2012 für die Beschwerdeführerin zu 1) ausgestellten Bescheinigung zur Freizügigkeitsberechtigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU hält diese sich erlaubt im Sinn des Art. 1 EFA in der Bundesrepublik auf. Wie das BSG in der Entscheidung vom 19.10.2010 auch darlegte, hatte die Bundesrepublik Deutschland bis dato keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten gemäß Art. 16 Buchst. b Satz 2 EFA abgegeben.

Den in Reaktion auf die Entscheidung des BSG vom 19.10.2010 (B 14 AS 23/10 R) von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 erklärten Vorbehalt hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II hält der Senat bei vorläufiger Prüfung für nicht wirksam, so dass dieser Vorbehalt die Beschwerdeführer nicht vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausschließen kann (str., wie hier LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012, L 19 AS 794/12 B ER; Beschluss vom 23.05.2012, L 25 AS 837/12 B ER; SG Berlin, Beschluss vom 25.04.2012, S 55 AS 9238/12, Juris Rn. 53 ff.; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.06.2012, L 29 AS 920/12 B ER; Beschluss vom 21.06.2012, L 20 AS 1322/12 B ER, SG Berlin, Beschluss vom 11.06.2012, S 205 AS 11266/12 ER). Die Bundesrepublik Deutschland hat am 19.12.2011 gegenüber dem Generalsekretär des Europarats in Bezug auf das SGB II folgende Erklärung und Vorbehalt zu Art. 16 Buchst. b Satz 2 des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 abgegeben (Bekanntmachung vom 31.01.2012, BGBl II S. 144, berichtigt durch Bekanntmachung vom 03.04.2012, BGBl II S. 470):

"Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden."

Grundlage für die Erklärung eines solchen Vorbehalts ist Art. 16 Buchst. b EFA. Nach Satz 1 hat jeder Vertragschließende dem Generalsekretär des Europarats alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die im Anhang 1 noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen (Satz 2). Der Senat hat schon Zweifel, ob der Vorbehalt vom Dezember 2011 gleichzeitig mit der Mitteilung neuer Rechtsvorschriften im Sinn dieser Regelung angemeldet worden ist (dazu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012, L 19 AS 794/12 B ER, Juris Rn. 8). Vor allem aber hat der Senat erhebliche Bedenken, ob die Regierung der Bundesrepublik einen Vorbehalt gemäß Art. 16 Buchst. b Satz 2 EFA ohne Beteiligung der Legislative, also ohne Einbindung bzw. Ermächtigung des Bundestags, wirksam erklären konnte. Es dürfte sich bei diesem Vorbehalt um eine vertragliche Regelung im Sinn des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG handeln, die "der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes" bedarf (in diesem Sinn auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.05.2012, L 25 AS 837/12 B ER; SG Berlin, Beschluss vom 25.04.2012, S 55 AS 9238/12).

Da der Senat im Rahmen der hier angezeigten summarischen Prüfung den Leistungsausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch Art. 1 EFA ausgeschlossen sieht, besteht keine Notwendigkeit, sich im Eilverfahren mit der von den Beschwerdeführern angesprochenen und ebenfalls sehr umstrittenen Frage auseinanderzusetzen, ob der Leistungsausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus weiteren Gründen mit über und zwischenstaatlichem Recht unvereinbar. ist (dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 22.12.2010, L 16 AS 767/10 B ER; vgl. jüngst auch Bayer. LSG, Beschluss vom 03.08.2012, L 7 AS 144/12 B ER).

Ein Anordnungsgrund ist zwischenzeitlich glaubhaft gemacht. Es besteht Eilbedürftigkeit, da den Beschwerdeführern ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar ist. Die Beschwerdeführer sind auf existenzsichemde Leistungen nach dem SGB II dringend angewiesen. Sie haben kein Einkommen, aktuell nicht einmal das Kindergeld, und kein ausreichendes Vermögen. Dies ist durch die Antragsunterlagen vom 09.08.2012 glaubhaft gemacht worden. Zwar hat die Beschwerdeführerin zu 1) zur Frage nach vorhandenem Bargeld keine Angaben gemacht. Wenn allerdings die Not der Beschwerdeführerin zu 1) so groß ist, dass sie zusammen mit ihren drei Kindern ein 10 qm großes Zimmer als Obdachlosenunterkunft bezieht, ist es unwahrscheinlich, dass sie über ein nennenswertes Barvermögen verfügt.

Im Rahmen der Folgenabwägung ist auch die Bedeutung der beantragten Leistungen für die Beschwerdeführer gegen das fiskalische Interesse des Beschwerdegegners abzuwägen, die vorläufig erbrachten Leistungen im Fall eines Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten. Bei ungeklärten Erfolgsaussichten in der Hauptsache muss hier die Folgenabwägung zugunsten der Beschwerdeführer ausgehen, da für diese existenzsichernde Leistungen auf dem Spiel stehen und dabei das auch ausländischen Staatsangehörigen zustehende Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen ist (vgl. BVerfG. Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, zum Asylbewerberleistungsgesetz).

Dauer und Höhe der zusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) im Ermessen des Gerichts. Der Senat übt dieses Ermessen dahingehend aus, dass in Anlehnung an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II vorläufige Leistungen vom 01.07.2012 bis 31.12.2012 zu erbringen sind. Da nicht damit zu rechnen ist, dass die maßgeblichen Rechtsfragen noch in diesem Jahr höchstrichterlich geklärt sein werden, erscheint ein kürzerer Leistungszeitraum nicht sinnvoll.

Bezüglich der Höhe der Leistungen geht der Senat von folgenden Eckpunkten aus: Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts beträgt für die Beschwerdeführerin zu 1) 374 € zuzüglich des Mehrbedarfszuschlags für Alleinerziehende in Höhe von 134,64 € (gesamt 508,64 €, gerundet 509 €). Bei den Regelbedarfen für die Beschwerdeführer zu 2) bis 4) wird das Kindergeld in Höhe von monatlich 184 € für das erste und das zweite Kind und von monatlich 190 € für das dritte Kind in Abzug gebracht. Zwar ist das Kindergeld im Juli 2012 nicht geleistet worden. Wie auch der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführer (Fax vom 13.08.2012) geht der Senat aber davon aus, dass das Kindergeld für drei Kinder in Kürze (wieder) gewährt werden wird. Es ergibt sich also für die Beschwerdeführerin zu 2) ein Leistungsbetrag von 67 € (251 € minus 184 €), für die Beschwerdeführerin zu 3) ein Betrag von 35 € (219 €minus 184 €) und für die Beschwerdeführerin zu 4) ein Betrag von 29 € (219 € minus 190 €). Für alle Beschwerdeführer errechnet sich ein Betrag in Höhe von monatlich 639,64 € (gerundet 640 €).

Hinzu kommen als Kosten der Unterkunft die für die Obdachlosenunterbringung anfallenden Benutzungsentgelte. Berücksichtigt werden die Benutzungsgebühr (monatlich 107,83 €) und die Betriebskostenpauschale (monatlich 62 €), so dass sich für die Monate August bis Dezember 2012 ein Betrag von 162,83 € errechnet (gerundet 163 €). Für den Monat Juli wird der im Bescheid der Stadt Augsburg vom 20.07.2012 genannte anteilige Betrag von 114,73 € (gerundet 115 €) angesetzt.

Der Senat hält es für möglich, dass noch in diesem Jahr die Kosten der Unterkunft anzupassen bzw. zu erhöhen sein werden, wenn es nämlich der Beschwerdeführerin zu 1) gelingen sollte, eine größere Unterkunft zu finden. [...]