VG Darmstadt

Merkliste
Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 18.09.2012 - 6 L 935/12.DA - asyl.net: M20071
https://www.asyl.net/rsdb/M20071
Leitsatz:

Für die Frage der Anwendung der Neuregelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kommt es auf den Zeitpunkt des Ablaufs der bisherigen Aufenthaltserlaubnis an.

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft, Aufhebung, eheliche Lebensgemeinschaft, Mindestbestandszeit, Ehebestandszeit, Vertrauensschutz, Vertrauensinvestition, Grundsatz des Vertrauensschutzes,
Normen: AufenthG § 8 Abs. 1, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 31 Abs. 1, AufenthG § 31 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO statthaft und auch ansonsten zulässig. Die am 28.06.2012 erhobene Klage des Antragstellers gegen die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis durch den Landrat des Kreises Offenbach vom 14.06.2012 entfaltet schon von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung. Dies ergibt sich aus § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, hinsichtlich der im Bescheid enthaltenen Abschiebungsandrohung aus § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 16 HessAGVwGO, da es sich um eine von Gesetzes wegen sofort vollziehbare Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung handelt.

Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bedarf es einer Abwägung der gegenseitigen Interessen der Beteiligten. Gegenstand dieser Interessenabwägung sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes zumindest vorläufig verschont zu werden, sowie das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes. Dabei erlangen auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes Bedeutung. So überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse, wenn die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu dem Ergebnis führt, dass der streitgegenständliche Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig erging. Ein überwiegendes Interesse eines Antragstellers ist hingegen anzunehmen, wenn die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene Überprüfung zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ergibt, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist.

Diese Abwägung musste hier zu Lasten des Antragstellers ausfallen, denn nach summarischer Prüfung kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass an der Rechtmäßigkeit des Bescheids des Antragsgegners vom 14.06.2012 keine Zweifel bestehen.

Die Voraussetzungen für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß §§ 8 Abs. 1, 27 Abs. 1, 28 Abs. 2 Satz 2 und 31 Abs. 1 und 2 AufenthG liegen offensichtlich nicht vor.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft erteilt. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift kann einem ausländischen Familienangehörigen zum Zwecke des nach Art. 6 GG gebotenen Schutzes von Ehe und Familie eine Aufenthaltserlaubnis für die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet erteilt und verlängert werden.

Der Antragsteller reiste am 07.02.2009 mit einem Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung zu seiner Ehefrau ... in das Bundesgebiet ein. Auf seinen Antrag wurde ihm eine bis zum 02.03.2010 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, welche am 03.03.2010 bis zum 02.03.2012 verlängert wurde. Anfang des Jahres 2011 zog die Ehefrau des Antragstellers aus der ehelichen Wohnung aus. Spätestens seit dem 31.03.2011 besteht unstreitig keine eheliche Lebensgemeinschaft mehr. Der Antragsteller hat daher gemäß §§ 28 Abs. 2 Satz 2, 27 Abs. 1 AufenthG offensichtlich keinen Anspruch auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.

Dem Antragsteller kann auch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 AufenthG zuerkannt werden.

Gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in der seit dem 1. Juli 2011 geltenden Fassung wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, von dem in § 27 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Aufenthaltszweck unabhängiges Aufenthaltsrecht für ein Jahr verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat. Daran fehlt es, da die Eheleute sich bereits zwei Jahre nach der Eheschließung getrennt haben.

Entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten des Antragstellers ist nicht auf die Gesetzesfassung bis 30.06.2011 zurückzugreifen, in der eine zweijährige Ehebestandszeit genügte.

Die mit der Neuregelung heraufgesetzte Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre enthält keine Übergangsregelung für "Alt- bzw. Übergangsfälle", so dass für die Frage des anwendbaren Rechts allgemeine Maßstäbe Anwendung finden (s.a. Sächs.OVG, Beschl. v. 14.08.2012 -3 B 156/12 -, juris; VG Stuttgart, Urt. v. 05.06.2012 - 6 K 1144/12 -, juris).

Nach allgemeinen Maßstäben bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der maßgebliche Zeitpunkt für die gerichtliche Prüfung eines Begehrens auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsacheninstanz, und zwar sowohl hinsichtlich der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen als auch hinsichtlich der behördlichen Ermessensentscheidung (BVerwG Urt. v. 09.06.2009 - 1 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1432). Daher ist grundsätzlich von der neuen Gesetzesfassung auszugehen.

Dabei widerspricht vorliegend die Anwendung des § 31 Abs. 1 AufenthG in seiner ab dem 1. Juli 2011 gültigen Fassung nicht dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Rückwirkungsverbot und dem Grundsatz des Vertrauensschutzes.

Die ohne gesetzliche Übergangsregelungen eingeführten Rechtsänderungen entfalten vorliegend lediglich "unechte" Rückwirkung. Die Regelung bezieht sich nur auf in der Vergangenheit noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft. Verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich des Grundsatzes des Vertrauensschutzes und des Verhältnismäßigkeitsprinzips sind daher nicht ersichtlich, zumal der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht vor jeder Enttäuschung bewahrt.

Die Anwendung des § 31 Abs. 1 AufenthG in seiner ab dem 1. Juli 2011 gültigen Fassung bewirkt auch keine "echte Rückwirkung". Eine "echte Rückwirkung" und damit ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip kann nur dann angenommen werden, wenn der Gesetzgeber auf eine bei Inkrafttreten einer Neuregelung bereits erlangte Rechtsposition in einer Weise einwirkt, dass diese nachträglich entfällt. Nur wenn die belastende Rechtsfolge einer Norm für einen Sachverhalt Geltung beansprucht, der bereits vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm abgeschlossen ist, handelt es sich um eine unzulässige "echte Rückwirkung" im Sinne einer "Rückbewirkung von Rechtsfolgen" (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.07.2010 - 2 BvL 14/02 -, NJW 2010, 3629; BVerwG, Urt. v. 30.03.2010 - 1 C 8.09 -, NVwZ 2010, 964). Dies ist vorliegend aber nicht gegeben.

Der hier maßgebende Sachverhalt war im Zeitpunkt der Rechtsänderung am 01.07.2011 noch nicht abgeschlossen. Der Antragsteller war zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz der bis zum 02.03.2012 gültigen Aufenthaltserlaubnis und hatte eine Verlängerung noch nicht beantragt. Weder der Ablauf der zweijährigen Ehebestandzeit nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG a.F. noch die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.06.2004 - 1 C 20.03 -, DVBl 2004, 1433) führen automatisch zur Umwandlung oder Verselbständigung des abgeleiteten, akzessorischen Aufenthaltsrechts nach § 30 Abs. 1 AufenthG in ein selbständiges, eheunabhängiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 AufenthG (VG München, Urt. v. 18.01.2012 - M 25 K 11.5222 -, juris). Eine "Umwandlung" bzw. Verselbständigung einer Aufenthaltserlaubnis vor Ablauf ihrer Gültigkeit, die das Gesetz z.B. für das Aufenthaltsrecht der Kinder in § 34 Abs. 2 AufenthG kennt, ist in § 31 AufenthG gerade nicht vorgesehen. Mithin war für den Antragsteller ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht im Zeitpunkt der Rechtsänderung weder entstanden noch konnte er sich darauf berufen.

Entgegen der Ansicht des Bevollmächtigten des Antragstellers ist es auch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht erforderlich, auf den Zeitpunkt der Trennung abzustellen. Ein eigenständiges, vom Bestand der Ehe unabhängiges Aufenthaltsrecht entsteht - wie o.a. - nicht durch die Trennung selbst. Daher konnte vorliegend ein Vertrauen auf ein vom Bestand der Ehe unabhängiges Vertrauen schon mangels Inanspruchnahme dieser für ihn begünstigenden Regelung nicht entstehen. Verfassungsrechtlich schutzwürdig ist das Vertrauen im Falle einer Rechtsänderung nur, wenn es noch unter der Gültigkeit der alten Rechtslage "ins Werk gesetzt" wurde; nur ein betätigtes Vertrauen, d.h. eine "Vertrauensinvestition", die zur Erlangung einer Rechtsposition oder zu einer entsprechenden anderen Disposition geführt hat, fällt unter den Schutz der Verfassung (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 05.05.1987 - 1 BvR 724/81 - u.a. -, NJW 1988, 545; BVerwG, Beschl. v. 30.03.2010 - a.a.O.; HessVGH, Beschl. v. 21.09.2011 -, InfAuslR 2011, 441-443).

Der Antragsteller hat eine derartige "Vertrauensinvestition" vor Änderung der Rechtslage zum 1. Juli 2011 gerade nicht vorgenommen. Die ihm ursprünglich erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 AufenthG war noch bis zum 02.03.2012 gültig, so dass er auch erst am 29.02.2012 die Verlängerung beantragte. Eine maßgebliche Betätigung des Vertrauens erfolgte daher erst nach Inkrafttreten der Neuregelung. Ebenso fällt das gedachte Verlängerungsjahr nach § 31 Abs. 1 AufenthG vollständig in den Gültigkeitsbereich der Neufassung. Dabei knüpft das Verlängerungsjahr ausdrücklich nicht an den Zeitpunkt der Trennung an, sondern an den Ablauf der bisherigen Aufenthaltserlaubnis (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.03.2010 - a.a.O.). Dies ergibt sich bereits aus dem Begriff der "Verlängerung", die erst dann in Betracht kommt, wenn ein bislang bestehender Aufenthaltstitel ausläuft. [...]