OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 20.08.2012 - 3 B 202/12 - asyl.net: M20073
https://www.asyl.net/rsdb/M20073
Leitsatz:

1. Das Recht zum dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass sich der Unionsbürger aus einem anderen Mitgliedsstaat "als" Arbeitnehmer im Bundesgebiet aufhält, mithin dort eine Arbeit aufnimmt. Diese Voraussetzung liegt nicht vor, wenn der Unionsbürger in Deutschland wohnt, aber im europäischen Ausland arbeitet.

2. § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG setzt voraus, dass der Arbeitnehmer der Ausländerbehörde eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit über seine unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorlegt.

3. Nach Ablauf eines Zeitraums von sechs Monaten sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen jedoch grundsätzlich zulässig, wenn der Unionsbürger nicht nachweisen kann, mit konkreter Aussicht auf Erfolg nach Arbeit zu suchen.

4. Der Unionsbürger eines anderen Mitgliedstaats, der sich in der Bundesrepublik zum Zweck der Arbeitsaufnahme niederlassen will, muss seine begründete Aussicht auf Erfolg bei der Arbeitssuche objektivierbar nach außen hin zum Ausdruck bringen.

Schlagwörter: Freizügigkeitsrecht, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürger, Arbeitsverhältnis, Beschäftigungsverhältnis, Arbeitnehmer, Wohnsitz, Wohnort, unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Arbeitssuche, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Bestätigung der Agentur für Arbeit, Arbeitsagentur,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 5 Abs. 5, FreizügG/EU § 2 Abs. 3, FreizügG/EU § 2 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerden der Antragsteller gegen den verwaltungsgerichtlichen Beschluss haben jedoch keinen Erfolg. Die mit den Beschwerden dargelegten Gründe, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Sätze 2 und 6 VwGO beschränkt ist, ergeben nämlich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Unrecht abgelehnt hat oder neue Tatsachen vorliegen, die eine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses rechtfertigen. Die Voraussetzungen für die Feststellung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU, dass die Antragsteller das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU verloren haben, liegen nach nummerischer Prüfung vor.

Mit Bescheid vom 1. März 2012 stellte der Antragsgegner unter Anordnung des Sofortvollzugs gem. § 5 Abs. 5 FreizügG/EU den Verlust des Rechts der Antragsteller auf ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) fest, erklärte die den Antragstellern vom Kreis ... erteilten unbefristeten Freizügigkeitsbescheinigungen vom 7. Mai 2010 für ungültig und zog sie ein, forderte die Antragsteller zur Ausreise aus dem Bundesgebiet binnen eines Monats ab Bekanntgabe des Bescheids auf und drohte Ihnen für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach .... oder in einen anderen Staat an, in den sie einreisen dürfen. Das Verwaltungsgericht hat die Anträge der Antragsteller auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Widersprüche gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 1. März 2012 mit der Begründung abgelehnt, den Antragstellern dürfte derzeit unter keinem Gesichtspunkt ein gemeinschaftsrechtliches Freizügigkeitsrecht im Sinne der §§ 2 bis 4 FreizügG/EU zustehen. Die Antragsteller zu 1 und 2 seien weder als Arbeitssuchende (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügiG/EU) noch als nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Der Antragsteller zu 1 habe nicht nachgewiesen, dass er ernsthaft und mit begründeter Aussicht auf Erfolg auf Arbeitssuche sei. Dies ergebe sich daraus, dass er bereits seit über einem Jahr arbeitslos und es ihm nicht gelungen sei, eine Arbeit zu finden. Auch habe er keine Belege über ernsthafte Bemühungen zur Arbeitssuche vorgelegt. Die Antragsteller seien auch nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.v.m. § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Dass die Antragsteller nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten, folge bereits daraus, dass sie auf Sozialleistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen seien. Ein anderes gemeinschaftsrechtliches Freizügigkeitsrecht der Antragsteller sei nicht ersichtlich.

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Antragsteller nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind. Denn sie verfügen nach ihrem eigenem Vorbringen, wonach sie nicht in der Lage sind, ihre inzwischen bis Juni 2012 auf 3.472,00 € angewachsenen Mietschulden zu begleichen, offensichtlich nicht über ausreichende Existenzmittel. Im Übrigen ist dies auch dadurch belegt, dass die Antragsteller ausweislich der Verwaltungsakten am 5. Juli 2012 beim Jobcenter ... Leistungen nach dem SGB II beantragt haben.

Der Antragsteller zu 1 vermag sich auch nicht auf § 2 Abs. 3 FreizügG/EU zu berufen. Ist ein Unionsbürger, nachdem er im Bundesgebiet eine Arbeit aufgenommen hat und somit gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt war, wieder arbeitslos geworden, bestimmt sich seine Freizügigkeitsberechtigung primär nach den privilegierenden Regelungen des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen nicht vor.

Ohne Erfolg verweist der Antragsteller zu 1 darauf, er sei, während er sich mit seiner Familie im Kreis ... niedergelassen habe, für die Dauer von mehr als einem Jahr bei einer Firma in den Niederlanden beschäftigt gewesen und sei unfreiwillig arbeitslos geworden, weswegen er nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Abs. 1 FreizügG/EU weiterhin berechtigt sei, sich in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Nach dieser Vorschrift bleibt das Recht von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern auf Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) bei unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt. Entgegen der Ansicht der Antragsteller setzt das Recht zum dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU jedoch voraus, dass sich der Unionsbürger aus einem anderen Mitgliedsstaat "als" Arbeitnehmer im Bundesgebiet aufgehalten hat, mithin dort eine Arbeit aufgenommen hatte (vgl. Epe a.a.O., § 2 Rn. 29). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da der Antragsteller zu 1 in den Niederlanden gearbeitet hat.

Dem steht nicht entgegen, dass das Arbeitsverhältnis nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lediglich eine Berührung zu einem anderen Mitgliedstaat, mithin einen gemeinschaftsrechtlichen Bezug aufweisen muss (vgl. Huber, AufenthG, 2010, § 2 FreizügG/EU Rn. 20 m. w. N.) und dieser Bezug zum Beispiel schon dann gegeben sein kann, wenn der Arbeitnehmer die Beschäftigung weiterhin in seinem Heimatstaat ausübt und lediglich seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Denn hat der Arbeitnehmer im Bundesgebiet lediglich seinen Wohnsitz genommen, geht seiner Arbeit jedoch in seinem Heimatstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat nach, ist er auch nach den Regelungen des Freizügigkeitsgesetzes freizügigkeitsberechtigt, wenn er über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügt (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Diese Voraussetzungen liegen - wie ausgeführt - nicht vor.

Selbst wenn man unterstellt, dass der Antragsteller zu 1 aufgrund der vorgelegten Arbeitsverträge vom 10. April und 30. Juni 2012 für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten tatsächlich beschäftigt und ungeachtet des geringfügigen Umfangs dieser Beschäftigungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19. April 2012, a.a.O.) somit Arbeitnehmer war, steht ihm auch kein Anspruch auf eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 3 Satz 2, Abs. 1 FreizügG/EU zu. Danach bleibt das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zum Aufenthalt von Unionsbürgern bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Zwar hat der Antragsteller zu 1 vorgetragen, er habe seinen Arbeitsvertrag mit ... vom 10. April 2012 nur deswegen gelöst, weil sich ihm die Möglichkeit eröffnet habe, bei der Firma ... mehr als 41 Stunden monatlich zu arbeiten und die Firma ... habe den mit ihm am 30. Juni 2012 geschlossenen Arbeitsvertrag bereits im Juli 2012 wieder gekündigt, weil er im ersten Monat seiner Beschäftigung krank geworden sei. Es genügt jedoch nicht, dass er lediglich Tatsachen vorträgt, die auf eine Unfreiwilligkeit seiner Arbeitslosigkeit schließen lassen. Vielmehr setzt § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG voraus, dass er der Ausländerbehörde eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit über seine unfreiwillige Arbeitslosigkeit vorlegt (vgl. Epe a.a.O., Rn. 117.1). Dieser Verpflichtung ist er nicht nachgekommen.

Es kann schließlich offen bleiben, ob der allgemeine Anspruch auf gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU neben die privilegierenden Regelungen des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU tritt oder von diesen verdrängt wird. Denn jedenfalls steht dem Antragsteller auch kein originärer Anspruch auf eine Freizügigkeitsberechtigung wegen Arbeitssuche im Bundesgebiet nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU zu. Hiernach sind Unionsbürger eines anderen Mitgliedstaats im Bundesgebiet gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt, die sich hier zur Arbeitssuche aufhalten wollen. Dies impliziert das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen. Starre Fristen, die den Zeitraum der Arbeitssuche beschränken, kennt das Unionsrecht nicht. Es gibt keinen Automatismus dergestalt, dass etwa nach Ablauf von drei Monaten eine Verlassenspflicht besteht, wenn bis dahin noch kein Arbeitsplatz gefunden wurde. Jedoch gewährt das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt kein unbeschränktes Aufenthaltsrecht. Nach Ablauf eines Zeitraums von sechs Monaten sind aufenthaltsbeendigende Maßnahmen jedoch grundsätzlich zulässig, wenn der Unionsbürger nicht nachweisen kann, mit konkreter Aussicht auf Erfolg nach Arbeit zu suchen (EuGH, Urt. v. 26. Februar 1991, InfAuslR 1991, 151; Epe a.a.O., § 2 Rn. 50). Diese Voraussetzungen liegen beim Antragsteller zu 1 vor.

Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, kann in Anbetracht der Tatsache, dass sich der Antragsteller zu 1 im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners mehr als ein Jahr erfolglos um einen Arbeitsplatz bemüht hat und auch der einzige Vermittlungsversuch des Jobcenters im März 2012 nicht erfolgreich war, nicht mehr davon ausgegangen werden, dass er mit begründeter Aussicht auf Erfolg nach Arbeit im Bundesgebiet sucht. Eine solchermaßen begründete Aussicht - die Ernsthaftigkeit die Arbeitsverträge vom 10. April und 30. Juni 2012 unterstellt - folgt auch nicht aus dem Umstand, dass der Antragsteller während der Monate April bis Juli 2012 geringfügig im Baugewerbe beschäftigt war. Denn es ist nicht nachvollziehbar, weshalb er angesichts der mit § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU verbundenen Privilegierung, nämlich der Fortdauer seines Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU um weitere sechs Monate, dem Antragsgegner nicht die von § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU vorausgesetzte Bescheinigung der zuständigen Agentur für Arbeit, unfreiwillig arbeitslos geworden zu sein, vorgelegt hat. Der Unionsbürger eines anderen Mitgliedstaats, der sich in der Bundesrepublik zum Zweck der Arbeitsaufnahme niederlassen will, muss seine begründete Aussicht auf Erfolg bei der Arbeitssuche objektivierbar nach außen hin zum Ausdruck bringen (Epe a.a.O., § 2 Rn. 51). Daher muss von ihm, wenn er nach kurzer Beschäftigungsdauer im Bundesgebiet arbeitslos wird und weiterhin ernsthaft beabsichtigt, sich zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten, erwartet werden, dass er alles unternimmt, um seinen Aufenthalt zu legalisieren. Somit ist vorauszusetzen, dass er seiner Verpflichtung nachkommt, die besagte Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit vorzulegen. Anderenfalls kann aus einer weniger als ein Jahr andauernden Beschäftigung, die im Falle des Antragstellers zu 1 zudem nur in geringem Umfang ausgeübt wurde, nicht der Schluss auf begründete Erfolgsaussichten bei der Arbeitssuche und ihrer Ernsthaftigkeit gezogen werden. [...]