OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 02.03.2012 - 3 L 435/04 - asyl.net: M20210
https://www.asyl.net/rsdb/M20210
Leitsatz:

In Aserbaidschan besteht für Personen mit teilweise armenischer Abstammung jedenfalls dann auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL keine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung mehr, wenn sie vollständig aserbaidschanisch integriert sind.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Beweiserleichterung, Gruppenverfolgung,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9,
Auszüge:

[...]

b) Die Klägerin ist in Aserbaidschan nicht den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt. Ihre Furcht vor politischer Verfolgung ist nicht begründet.

aa) Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin in Aserbaidschan wegen ihrer teilweise armenischen Abstammung politische Verfolgung erlitten hat. Sie ist nach eigenen Angaben 1990 durch Flüchtlinge aus Armenien mit ihrer Familie aus dem eigenen Haus in Baku vertrieben worden und hat in der Folgezeit mit ihrer Mutter zurückgezogen und versteckt gelebt; die Mutter ist offenbar von Mitbürgern körperlich angegriffen worden. Jedenfalls zu Beginn der 1990er Jahre bestand in Aserbaidschan auch eine Situation mittelbarer Gruppenverfolgung armenischer Volkszugehöriger (vgl. OVG Koblenz, U. v. 20.09.2001 - 6 A 11840/00.OVG -, S. 10 ff.).

bb) Die Klägerin hat jedoch heute im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan keine politische Verfolgung mehr zu befürchten. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung nach § 4 Abs. 4 QRL. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Solche stichhaltigen Gründe sind hier gegeben.

(1) Die persönliche Situation der Klägerin hat sich grundlegend geändert. Sie lebt nicht mehr mit ihrer armenischen Mutter zusammen. Diese ist zwischenzeitlich verstorben. Sie ist ferner mit einem aserbaidschanischen Volkszugehörigen verheiratet. Da die Klägerin, die von einem aserbaidschanischen Vater abstammt, schon von Kindheit an einen aserbaidschanischen Namen trägt und aserischsprachig aufgewachsen ist, war ihre teilweise armenische Abstammung bereits in der Vergangenheit nur mittelbar über den Kontakt zu ihrer Mutter erkennbar. Heute bestehen für diese Abstammung keinerlei äußerlich erkennbaren Anzeichen mehr, die privaten Dritten mit feindseliger Einstellung gegenüber Armeniern Anlass zu Nachstellungen oder Diskriminierung geben könnten.

(2) Soweit die Klägerin auch für die Zeit nach ihrer Eheschließung - allerdings maßgeblich anknüpfend an die Beerdigung der Mutter - von massiven körperlichen Angriffen und Bedrohungen berichtet hat, hat der Senat sich auch nach dem Ergebnis der Anhörungen der Klägerin und ihres Ehemannes in der mündlichen Verhandlung am 02.03.2012 nicht die erforderliche Überzeugung von diesem Geschehen bilden können. Dabei berücksichtigt der Senat, dass beide Anhörungen jeweils in Anwesenheit des Ehepartners erfolgten, der damit die Möglichkeit hatte, die Angaben des anderen zu korrigieren oder zu erläutern; mangels solcher Korrekturen oder Erläuterungen geht der Senat davon aus, dass beide sich die Angaben des jeweils anderen zu eigen machen.

Die §§ 15, 23 und 25 AsylVfG legen sowohl allgemeine als auch besondere Mitwirkungspflichten des Flüchtlings fest, die den gesetzlichen Rahmen der dem Flüchtling obliegenden Mitwirkungspflichten vorgeben. [...]

Diesen Anforderungen an einen schlüssigen Sachvortrag wird der Vortrag der Klägerin nicht gerecht. Maßgeblich ist, dass der Vortrag im Verlauf des Verfahrens immer wieder in zentralen Punkten geändert worden ist, und zwar sowohl betreffend das konkrete verfolgungsbegründende Geschehen einschließlich der näheren Umstände der Heirat als auch betreffend die allgemeinen Lebensverhältnisse wie Wohnort und berufliche Tätigkeit des Ehemannes. Dabei fällt auf, dass ursprünglich in der Anhörung beim Bundesamt für die Zeit kurz vor der Ausreise kein individuelles Verfolgungsgeschehen berichtet worden war, und die nachfolgenden Schilderungen massiver körperlicher Angriffe und Bedrohungen in der zu Beginn des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens von der Klägerin eingereichten schriftlichen Darstellung in der Folgezeit Stück für Stück ausdrücklich zurückgenommen oder geändert oder nicht wiederholt worden sind. Dem gegenüber hat der Ehemann der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in mehreren Punkten völlig neue Sachverhalte vorgetragen, von denen zuvor nicht die Rede gewesen war.

In der Anhörung beim Bundesamt hatten die Klägerin und ihr Ehemann keinerlei Angaben über gegen sie erfolgte Gewalttätigkeiten gemacht. Allerdings hatten sie in der Folgezeit erklärt, der Dolmetscher habe sie nicht ausreden lassen und gesagt, dass die bisherigen Angaben reichen würden; der Prozessbevollmächtigte hatte deshalb eine Beschwerde an das Bundesamt gerichtet. Die Klägerin hat dann eine schriftliche Darstellung vorgelegt, in der sie vor allem für die Zeit unmittelbar vor der Ausreise massive Angriffe und Bedrohungen durch Gruppen aserbaidschanischer Bürger in dramatischer Weise schildert. Indes ist es bei dieser Darstellung dann nicht geblieben, sondern die Schilderung von Gewalttätigkeiten, denen das Ehepaar vor der Ausreise ausgesetzt gewesen sein soll, wurde im Verlauf des Verfahrens - nicht nur im Rahmen der Klarstellung von Übertragungsfehlern, die bei der seinerzeitigen Übersetzung der russischsprachigen Aufzeichnungen der Klägerin unterlaufen sein könnten - wieder abgeschwächt und mehrfach geändert. [...]

Auf der Grundlage eines derart wechselnden Vortrags ist dem Senat die Bildung einer Überzeugung von den geschilderten Erlebnissen der Klägerin vor der Ausreise nicht möglich. Der Senat kann daher auf dieser Grundlage auch nicht davon ausgehen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr systematische Nachstellungen durch Mitbürger oder Verwandte ihres Ehemannes zu erwarten hat.

(3) Maßgeblich ist ferner die Änderung der allgemeinen Lage für Personen, die armenischer Volkszugehörigkeit sind bzw. von armenischen Volkszugehörigen abstammen.

Für die vergangenen Jahre werden keinerlei gewalttätige Übergriffe auf solche Personen berichtet. Entsprechendes teilt jeweils der Country Report an Human Rights Practices des U.S. State Department für die. Jahre 2008 bis 2010 ausdrücklich mit ("There were no reports of violence against Armenians during the year.") Im übrigen fehlen auch in allen anderen Quellen Berichte über Übergriffe, obwohl offenbar noch Armenier in Aserbaidschan leben (U.S. Department of State, 2010 Human Rights Report Azerbaijan, S. 26: etwa 20.000; AA, Lagebericht 2010, S. 13: es gebe keine verlässlichen Zahlen; das Staatskomitee für Statistik spreche von 1.000 Personen; nach Transkaukasus-Institut vom 18.10.2005 an OVG M-V, S. 2 stammt die Zahl von etwa 20.000 aus dem Jahr 2004 und erschien dem Gutachter plausibel; er merkte aber an, dass sich die Zahl der armenischen Volkszugehörigen durch Auswanderung und Versterben fortlaufend reduziere). Da gleichzeitig über Benachteiligungen armenischer Volkszugehöriger im sozialen Leben berichtet wird, sind diese offenbar trotz der Tendenz zur Assimilation auch nicht völlig unerkennbar.

Auch Vorfälle wie die aus dem Jahr 2003 berichtete Ablehnung von Visa für drei ausländische Bürger armenischer Abstammung mit der Begründung, deren Sicherheit in Baku könne nicht garantiert werden (U.S. Department of State, 2003 Human Rights Report Azerbaijan, S. 19) sind nicht mehr berichtet worden.

Allerdings gibt es nach wie vor Berichte Ober Benachteiligungen armenischer Volkszugehöriger durch Behörden und im sozialen Leben. Nach dem Lagebericht 2011 des Auswärtigen Amtes (s.d. S. 13) hat die Botschaft Hinweise darauf, dass Armenier öfter Behördenwillkür ausgesetzt sind als ethnische Aserbaidschaner; es sei jedoch schwierig, dies zu belegen, da sich die berichteten Fälle auf Probleme beziehen, die auch ethnische Aserbaidschaner betreffen (Beschlagnahme von Wohnungen, Nichtausstellungen von Pässen, Nichtauszahlung der Rente, Schwierigkeiten von Kindern in der Schule). Aus der russischen Botschaft in Baku sei bekannt, dass russischen Aeroflot-Piloten mit armenischen Namen der Aufenthalt verweigert wurde. Viele Armenier hätten einen aserbaidschanischen Namen angenommen, um ihre Herkunft zu verschleiern, und in Baku würden armenische Namen nicht verwendet. Ebenso berichtet das U.S. Department of State (2010 Human Rights Report Azerbaijan, S. 26): "Some of the ... citizens of Armenian descent ... historically complained of discrimination in employment, schooling, housing, the provision of social services, and other areas. Citizens who were ethnic Armenians often concealed their ethnicity by legally changing the ethnic designation in their passports."

Der Senat geht aber davon aus, dass die Beeinträchtigungen, denen armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan nach wie vor ausgesetzt sein können, die Klägerin nicht in relevanter Weise betreffen.

Soweit es um Benachteiligungen durch Behörden geht, knüpfen diese jedoch maßgeblich an eine amtlich armenische Volkszugehörigkeit an. In diesem Sinne ist die Klägerin aber aserbaidschanische Volkszugehörige.

Die amtliche Volkszugehörigkeit leitet sich in Aserbaidschan nach einer Auskunft des Transkaukasus-Instituts bei Kindern aus amtlich registrierten Ehen vom Vater ab (Auskunft an OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 18.10.2005 S. 1). Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes (Auskunft an VG München v. 08.01.1997) ergibt sich die Volkszugehörigkeit aus einer Vereinbarung der Eltern, zumeist jedoch der Volkszugehörigkeit des Vaters. Nach dieser Auskunft würde sich für die Klägerin nichts anderes ergeben. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat berichtet, der Vater habe nicht gewollt, dass sie länger als zwei Jahre zur Schule gehe. Er habe Wert darauf gelegt, dass in der Familie nur Aseri gesprochen worden sei. Der Vater hat danach gleichsam über die "kulturelle Orientierung" der Familie entschieden, und zwar im Sinne seiner eigenen aserbaidschanischen Herkunft. Dem entsprechend hat die Klägerin selbst sich in der Anhörung beim Bundesamt als aserbaidschanische Volkszugehörige bezeichnet. Sie hat auch im gerichtlichen Verfahren stets ihre aserbaidschanische Prägung betont und damit begründet, weshalb es ihr nicht möglich sei in Armenien oder Berg-Karabach zu leben.

Allerdings ist auch bei einer Person mit amtlich aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit die Zuschreibung "Armenierin" durch Personen in ihrer Umgebung nicht ausgeschlossen ist (vgl. ThürOVG, U. v. 28.02.2008 - 2 KO 899/03 -, Juris Rn. 46 f mwN; zur Unterscheidung der amtlichen Volkszugehörigkeit einerseits und der Volkszugehörigkeit nach Selbst- und Fremdzuordnung andererseits vgl. auch Transkaukasus-Institut aaO). Soweit es um Benachteiligungen durch Private geht, die armenischstämmige Personen betreffen können, bietet die Klägerin hierzu jedoch keinen Anlass, weil sie einen aserischen Namen trägt, Aseri spricht und mit einem Aserbaidschaner verheiratet ist. Sie ist damit gleichsam vollständig aserbaidschanisch integriert - was wie gesagt auch ihrem Selbstverständnis entspricht -; ihre armenische Herkunft mütterlicherseits tritt nicht mehr in Erscheinung.

Ob die für armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan noch bestehenden Beeinträchtigungen die in Art. 9 QRL vorausgesetzte Schwere erreichen und die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreichen (zu den Voraussetzungen der Gruppenverfolgung vgl. BVerwG, U. v. 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243; zu den im wesentlichen identischen Maßstäben unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie vgl. BVerwG U. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237; U. v. 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 135, 55), so dass jedenfalls unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL noch von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung für armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan ausgegangen werden kann, erscheint dem Senat sehr fraglich. Letztlich bedarf diese Frage jedoch keiner Entscheidung, weil die Klägerin der etwaig noch verfolgten Gruppe der "Personen mit erkennbar armenischer Abstammung" nicht angehört. [...]