BAMF

Merkliste
Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 28.11.2012 - 5424120-431 - asyl.net: M20218
https://www.asyl.net/rsdb/M20218
Leitsatz:

Es besteht keine extreme Gefahrenlage für nach Sri Lanka zurückkehrende Tamilen. Anderes gilt jedoch für junge Tamilen mit Kriegserlebnissen, die bei Rückkehr auf kein funktionierendes und tragfähiges soziales Netz, das ihnen auch in psychischer Hinsicht Stütze sein kann, zurückgreifen können. Sie würden in Sri Lanka alsbald in eine ausweglose Lage geraten.

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, extreme Gefahrenlage, verfassungskonforme Auslegung, Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, soziales Netz, sozialer Rückhalt, familiärer Rückhalt, ausweglose Lage, Notlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Sri Lanka vor.

Von einer Abschiebung soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dem Ausländer eine erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht, wobei es hier nicht darauf ankommt, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Es muss jedoch über die Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung deutlich übersteigt (vgl. die insoweit auf § 60 Abs. 7 AufenthG über tragbaren Entscheidungen BVerwG, Urteile vom 29.11.1977, BVerwGE 55, 82; vom 17.01.1989, EZAR 201 Nr. 19; vom 30.10.1990, BVerwGE 87,52; vom 17.10.1995, BVerwGE 99.324, und vom 23.08.1996, 9 C 144.95).

Gründet sich die von einem Ausländer geltend gemachte Furcht auf Gefahren, die die ganze Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe, der er angehört, allgemein betreffen, so ist daher grundsätzlich § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG anzuwenden. Eine allgemeine Gefahr i. S. des § 60 Abs. Satz 3 AufenthG liegt vor, wenn ein Missstand im Zielstaat der Abschiebung die Bevölkerung insgesamt oder eine Bevölkerungsgruppe so trifft, dass grundsätzlich jedem, der der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe angehört, deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr i. S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001, BVerwGE 115, 1). Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist in diesen Fällen die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers beim Bundesamt gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht, da dieser Personenkreis bei Entscheidungen der obersten Landesbehörden gem. § 60a AufenthG zu berücksichtigen ist. Ein Schutz vor der Durchführung der Abschiebung ist in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG jedoch ausnahmsweise dann zu gewähren, wenn keine anderen Abschiebungsverbote gegeben sind, die Abschiebung jedoch Verfassungsrecht verletzen würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 a.a.O. und 27.04.1998, EZAR 043 Nr. 29 m.w.N.). Ergibt somit die Prüfung des Einzelfalles, dass die oberste Landesbehörde trotz einer extremen allgemeinen Gefährdungslage, von der ihr nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG zustehenden Ermessensermächtigung aus § 60a AufenthG keinen Gebrauch gemacht hat, und daher jeder einzelne Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, ist in diesen Fällen von Verfassungs wegen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) eine Einzelfallentscheidung geboten und Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, EZAR 043 Nr. 27).

Ob sich eine allgemeine Gefahrenlage für den einzelnen Ausländer zu einer extremen Gefahr verdichtet, ist nur dann feststellbar, wenn eine wertende Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass der Ausländer im Abschiebezielstaat entweder einer extremen Gefahrenlage für die gesamte Gruppe, der er zugehört, oder einer für ihn aufgrund besonderer Umstände individuell zugespitzten extremen Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt wäre (BVerwG, Beschluss vom 08.04.2002, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59).

Eine derart extreme Gefahrenlage, die bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen würde, liegt für Tamilen in Sri Lanka nicht vor.

Die frühere Bewertung etwa des Auswärtigen Amtes, dass zurückkehrenden Asylbewerbern ohne familiäres oder soziales Netz die Verelendung drohe, entspricht angesichts der stabilisierten Sicherheitslage und des Umstandes, dass auch die Lebensverhältnisse zivilere Züge angenommen haben, nicht mehr der aktuellen Lage (vgl. die aktuellen Lageberichte zu Sri Lanka a.a.O.). Vielmehr kann bei einer Rückkehr nach Sri Lanka grundsätzlich von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden (vgl. VGH Kassel, Urteil vom 09.09.2011, Az.: 5 A 176/10.A; VG Hannover, Urteil vom 30.11.2011; Az.: 5 A 3069/11). Sri Lankas Wirtschaft hat sich trotz einer weiterhin hohen Inflation in den vergangenen Jahren zufriedenstellend entwickelt und auch die Prognose für die Zukunft ist nach dem Ende des Bürgerkrieges insgesamt positiv (vgl. Sunday Times: Global economic outlook and prospects for the Sri Lankan Economy in 2012", Meldung vom 01.01.2012). Touristen bereisen ebenso wieder das Land, wie ausländische Unternehmen nach Investitionsmöglichkeiten suchen (vgl. Hamburger Abendblatt: Colombo vibriert vor neuer Lebenslust", Meldung vom 17.01.2012). Vor allem China und Indien fördern bedeutende Infrastrukturprojekte, wie etwa den Hafenausbau in Colombo oder die Erschließung des Landes mit Straßen und Strom. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für die nächsten Jahre ein deutliches Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) (vgl. www.finanznet.de: "Sri Lanka - Ein Land, eine Vision", Meldung vom 29.11.2010). Auch im Norden und Nordosten hat sich die wirtschaftliche Lage deutlich verbessert. So führt die Regierung verschiedene Fördermaßnahmen durch und leistet Hilfe für Einkommensschwache (vgl. Auswärtiges Amt, Länderinformation Sri Lanka, Wirtschaft: Stand Oktober 2011). Außerdem leisten zahlreiche Hilfsorganisationen Unterstützung bei der Wiederherstellung der Infrastruktur, so z.B. beim Bau von Häusern für Flüchtlinge (vgl. etwa www.retter.tv/de: "ASB: Häuser für 109 Familien in Sri Lanka", Meldung vom 14.09.2011; BBC-News, "South Asia: Building a new life after the war in Sri Lanka", Meldung vom 21.07.2011, www.stern.de: "EU-Kommission stockt Hilfe für srilankische Flüchtlinge auf", Meldung vom 06.05.2011) oder gewähren direkte finanzielle Hilfen für rückkehrende Familien (vgl. VG Aachen, Urteil vom 23.09.2011; 7 K 1212/10.A m.w.N.).

Im Hinblick auf die besondere Lebenssituation der Antragsteller, die vor mittlerweile drei Jahren als unbegleitete Minderjährige mit deutlichen Anzeichen einer - bis heute ersichtlich nicht bewältigten - Traumatisierung nach Deutschland gekommen, hier inzwischen - gerade auch in sprachlicher und schulischer Hinsicht - integriert und mit den Lebensverhältnissen in Sri Lanka nicht mehr vertraut sind, muss im konkreten Fall allerdings eine andere Bewertung erfolgen. Ohne ein funktionierendes und tragfähiges soziales Netz, das ihnen nicht zuletzt auch in psychischer Hinsicht Stütze sein könnte, würden sie in Sri Lanka alsbald in eine ausweglose Lage geraten.

Das, womit sie ihr Schutzbegehren begründen, entspricht uneingeschränkt und überzeugend den hier vorliegenden allgemeinen Erkenntnissen über das Schicksal tamilischer Kinder in den Kampfgebieten gegen Ende des Krieges: "Die Vertreibung aus ihren Heimatorten während des Bürgerkriegs, ein wochen- oder monatelanger Aufenthalt im Kampfgebiet unter Beschuss und die folgende Internierung in Vertriebenenlagern haben bei vielen Kindern physische und psychische Beeinträchtigungen hinterlassen; rund 330.000 Kinder haben durch die Kämpfe einen oder beide Elternteile verloren ..." (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen sozialistischen Republik Sri Lanka vom 01.06.2012).

Die Antragsteller haben mithin Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]