SG Regensburg

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Zitieren als:
SG Regensburg, Beschluss vom 13.12.2012 - S 4 AY 5/12 ER - asyl.net: M20270
https://www.asyl.net/rsdb/M20270
Leitsatz:

Das soziokulturelle Existenzminimum wird durch den Barbetrag nach § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG sichergestellt. Nach Auffassung einiger Gerichte darf dieses Existenzminimum auch nicht durch eine Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG unterschritten werden. Dabei handelt es sich um eine offene Rechtsfrage, die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden kann, weshalb eine Anordnung zugunsten der Antragstellerin zu erlassen ist.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Barleistungen, physisches Existenzminimum, Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, Bundesverfassungsgericht, evident unzureichend, Menschenwürde, verfassungskonform, Verfassungsmäßigkeit,
Normen: AsylbLG § 3, AsylbLG § 1a Nr. 2, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

b) Die Antragstellerin hat daher grundsätzlich einen Anspruch auf die begehrten Leistungen (§ 3 AsylbLG); die sachliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin ergibt sich dabei aus § 13 DVAsyl.

c) Ob die Antragsgegnerin dagegen zur Recht die Zahlung eines Geldbetrages zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens verweigert hat, kann für das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden.

Das physische Existenzminimum der Antragstellerin ist durch die bereits bewilligten Leistungen gedeckt. Nicht gedeckt ist jedoch das soziokulturelle Existenzminimum der Antragstellerin. Dieses wird durch den Barbetrag nach § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens sichergestellt. Nach der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts sind zur Berechnung der Leistungshöhe die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben der Abteilungen 7 bis 12 der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (vgl. § 5 ff RBEG) zu Grunde zu legen. Hieraus ergibt sich ab 01.01.2012 ein Betrag in Höhe von 134 € monatlich und ab 01.01.2013 ein solcher in Höhe von 137 € monatlich. Die Antragsgegnerin verweigert jedoch unter Berufung auf § 1a Nr. 2 AsylbLG die Auszahlung dieses Barbetrages.

Nach § 1a Nr. 2 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte, bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, Leistungen nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Bisher bestand weitgehend Einigkeit dahingehend, dass trotz des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG) jedenfalls eine Kürzung des Taschengeldes ohne weiteres möglich ist (Adolph, in: Linhart/Adolph, AsylbLG, § 1a Rz.18b; Birk, in: LPK-SGB XII, § 1a Rz. 5).

Mit Urteil vom 18.07.2012 hat das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) entschieden, dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG evident unzureichend sind. Die Regelungen des § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylbLG und § 3 Abs. 2 Satz 3 AsylbLG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 bzw. 2 AsylbLG reichten zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht aus und verstießen daher gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. In diesem Zusammenhang hatte das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren sei. Demgemäß könnten migrationspolitische Erwägungen, nämlich Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell zu hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (BVerfG, a.a.O., Rz. 121). Gestützt auf diese Ausführungen vertreten das Sozialgericht Düsseldorf (Beschluss vom 19.11.2012 - Az.: S 17 AY 81/12 ER) und das Sozialgericht Altenburg (Beschluss vom 21.10.2012 -Az.: S 21 AY 3362/12 ER) die Auffassung, dass dieses Existenzminimum auch nicht durch eine Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG unterschritten werden dürfe. Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1a AsylbLG vorliegen, sei unerheblich. Zur Verhinderung eines Unterschreitens des physischen und soziokulturellen Existenzminimums sei § 1a AsylbLG insoweit verfassungskonform auszulegen.

Ob dieser Rechtsauffassung zu folgen ist, kann für das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden; es ist zu beachten, dass sich das Bundesverfassungsgericht - weil der Sachverhalt des Rechtsstreits hierzu keinerlei Veranlassung bot - nicht dazu verhalten hat, ob § 1a AsylbLG weiterhin anwendbar ist. Es mag zutreffen, dass weder general- noch spezialpräventive Motive eine Unterschreitung des für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Leistungsniveaus zulassen; dies betrifft die gesetzlichen Regelungen des § 1a und § 2 AsylbLG gleichermaßen, die neben dem generalpräventiven Ziel, keine Zuzugsanreize für mittellose Ausländer zu schaffen, auch spezialpräventive Zwecke verfolgen, indem der Leistungsempfänger von missbräuchlichem Verhalten abgehalten werden soll. Allerdings folgt allein aus der Abwägungsresistenz des Schutzes der Menschenwürde noch nicht, dass Leistungskürzungen unter das durch den Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip vorgegebene Niveau ausnahmslos unzulässig sind (Rothkegel, ZAR 2012, 357). Unter ausreichender Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes können Leistungsabsenkungen zur Verhaltenssteuerung durchaus mit dem Grundrecht auf Menschenwürde vereinbar sein (vgl. § 26 SGB XII bzw. § 41 Abs. 4 SGB XII; vgl. auch §§ 31 ff. SGB II). Dies gilt umso mehr, als § 1a AsylbLG nicht nur migrationspolitische Zwecke verfolgt, sondern auch eine Privilegierung von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG im Vergleich zu deutschen Sozialhilfeempfängern und legal in Deutschland lebenden Ausländern verhindern will (so ausdrücklich BT-Drucks.13/10155, S. 5 linke Spalte a.E.).

Insoweit erweist sich die Rechtslage als durchaus offen.

3. Der Anordnungsgrund, d. h. die drohende Verletzung von Rechten oder Interessen der Antragstellerin in dem Fall, dass der Anordnungsanspruch besteht, aber keine einstweilige Anordnung ergeht, besteht darin, dass es ihr - da sie über keine finanzielle Ressourcen verfügt - nicht möglich wäre, ihren täglichen (soziokulturellen) Mindestbedarf zu decken.

4. Die dargelegte existenzielle Bedeutung der beantragten Leistungen für die Antragstellerin ist gegen das fiskalische Interesse der Antragsgegnerin abzuwägen, die vorläufig erbrachten Leistungen im Falle eines Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten. Angesichts in beide Richtungen offener Erfolgsaussichten der Hauptsache führt die Abwägung der Interessen beider Parteien dazu, eine einstweilige Anordnung zugunsten der Antragstellerin zu erlassen. [...]