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VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 08.11.2012 - 4 A 77/11 - asyl.net: M20297
https://www.asyl.net/rsdb/M20297
Leitsatz:

Ein in Deutschland geborenes 12-jährigen Mädchen hat Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m Art. 8 EMRK, wenn sie in ihrem Passstaat nicht unüberwindbare Integrationsschwierigkeiten zu erwarten hat. Dementsprechend liegen in Bezug auf die Tochter auch Abschiebungshindernisse für die nicht integrierten Eltern vor.

Schlagwörter: Reintegration, faktischer Inländer, minderjährig, familieneinheitliche Betrachtung, Verhältnismäßigkeit, Achtung des Privatlebens, Muttersprache, Türkei, schulische Integration, arabischsprachige Kurden, Kurden, Mahalmi, Integration, Kindeswohl,
Normen: AufenthG § 25, EMRK Art. 8, GG Art. 6, BGB § 1626 Abs. 1, BGB § 1631 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser Grundsätze und in Ansehung der Umstände des Einzelfalles stellt der mit einer Beendigung des Aufenthalts der Klägerin zu 3. verbundene Eingriff in ihr durch Art. 8 EMRK geschütztes Recht auf Achtung ihres Privatlebens keine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige, sondern eine unverhältnismäßige Maßnahme dar.

Die Klägerin ist in Peine geboren, hat ihr zwar noch nicht so langes, aber immerhin zwölfjähriges gesamtes bisheriges Leben dort verbracht, geht dort erfolgreich zur Realschule und in Peine und Umgebung leben sämtliche ihrer älteren Geschwister und auch ihre Freunde. In der Türkei hingegen war sie noch nie; ihre dort lebenden Onkel und Tanten kennt sie nicht. In der Stellungnahme des Jugendamtes des Beklagten vom 17. Juli 2012 heißt es, eine Ausreise in die Türkei würde die emotionale Entwicklung der Klägerin zu 3. negativ beeinflussen, ihre weitere schulische und berufliche Perspektive würde sich verschlechtern; da sie jedoch ihre Eltern als wichtigste Bindungspersonen in ihrer unmittelbaren Nähe hätte, wäre die Umstellung für sie voraussichtlich kompensierbar; deshalb stelle eine Ausreise in die Türkei zwar eine Beeinträchtigung des Kindeswohls, aber keine akute Kindeswohlgefährdung dar; wie erfolgreich sich die Klägerin zu 3. auf die in der Türkei herrschenden Verhältnisse umstellen kann, sei schwer zu prognostizieren, weil sie in Deutschland aufgewachsen sei. Das Gericht entnimmt dieser Stellungnahme, die der erstellende Mitarbeiter des Jugendamtes in der mündlichen Verhandlung noch einmal bestätigt hat, dass eine Ausreise der Klägerin zu 3. zusammen mit ihren Eltern zwar zu keiner akuten Kindeswohlgefährdung, wohl aber zu einer im vorliegenden Zusammenhang zu berücksichtigenden Beeinträchtigung des Kindeswohls führt. Anders als z. B. die Eingriffsbefugnis des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII setzt die Berücksichtigung der kindlichen Belange Klägerin zu 3. im vorliegenden Zusammenhang nicht das Bestehen einer dringende Gefahr für das Kindeswohl voraus. Zudem ergibt sich für das Gericht, dass die Klägerin zu 3. ausweislich der genannten Stellungnahme des Jugendamtes lediglich mit ihren Eltern deren Muttersprache arabisch, sonst jedoch nur deutsch und insbesondere kein türkisch spricht. Zwar gehören nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (Auskunft vom 5. September 2007 an das BAMF) ca. 2 % der türkischen Bevölkerung der arabischen Ethnie an, so dass von einer ausreichend großen Sprachgemeinde gesprochen werden kann. Auch könnte die Klägerin zu 3. in der Schule türkisch lernen; dies würde angesichts der vollständigen Abwesenheit türkischer Sprachkenntnisse jedoch einige Zeit in Anspruch nehmen und die Klägerin zu 3. in ihrem schulischen Fortkommen unzumutbar zurückwerfen. In Peine besucht sie erfolg- und aussichtsreich die Realschule; hieran könnte sie in der Türkei - wenn überhaupt - erst nach längerer Zeit anknüpfen. Dass ihr bei ihrer schulischen Integration ihre nur arabisch sprechenden und über keine nennenswerte Schulbildung verfügenden Eltern eine Hilfe sein könnten, ist nicht erkennbar. Ähnliches gilt angesichts der bisherigen Erwerbsbiographie ihrer Eltern für ihr wirtschaftliches Auskommen, auch wenn ausweislich der genannten Auskunft des Auswärtigen Amtes rückkehrende arabischsprachige Kurden aus den Süd-Ost-Provinzen der Türkei in der Regel Aufnahme und Unterstützung bei näheren oder ferneren Verwandten, die ihnen zumindest vorläufig Unterkunft gewähren, finden können. Für die Klägerin zu 3., die ihre gesamte Sozialisation in Deutschland erfahren hat, dürfte die solchermaßen erzwungene Eingliederung in die in der Herkunftsregion ihrer Eltern vorherrschenden traditionellen Familienverhältnisse mit einhergehender wirtschaftlicher Abhängigkeit zu beachtlichen Problemen führen. Dies insbesondere auch deshalb, weil sie ihre gesamten Geschwister in Deutschland zurücklassen müsste. Angesichts des Umstandes, dass die Klägerin zu 3. bei einer Ausreise in ihren Passstaat nicht mit einer hinreichenden Eingliedungsunterstützung ihrer Eltern rechnen kann und sie in der Türkei auch bedingt durch ihre nicht vorhandenen Kenntnisse der türkischen Sprache auf erhebliche und nicht in angemessener Zeit zu überwindende Integrationsschwierigkeiten trifft, braucht das Gericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht der weiteren sich stellenden Frage nachzugehen, ob die Klägerin zu 3. mit ihren zwölf Jahren schon eine Prägung erfahren hat, die sie angesichts der traditionellen Rolle der Frau und insbesondere deren Stellung in der Öffentlichkeit in dem Gesellschaftssystem in der Heimatregion ihrer Eltern bei einer Übersiedlung dorthin aufgeben müsste und möglicherweise schon binnen weniger Jahre eher einer Verheiratung, denn einer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung zugeführt werden würde. Nach alledem erscheint es angesichts der vorherrschenden Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig der Klägerin zu 3. die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG - weder § 25a AufenthG noch die Altfallreglung des § 104b AufenthG entfalten insoweit eine Sperrwirkung (GK-AufenthG, § 25a Rn. 36 bzw. § 25 Rn. 164) - nur deshalb zu versagen, weil dies ihren nicht integrierten Eltern wegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu einem quasi unverdienten Duldungsanspruch bis zur Volljährigkeit der Klägerin zu 3. verhilft. [...]