VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 10.01.2013 - 1 A 16/11 - asyl.net: M20397
https://www.asyl.net/rsdb/M20397
Leitsatz:

Der Kläger, der Bedrohungen und Verfolgung ausgesetzt war, nachdem er versucht hatte, die Todesumstände seines Vaters, eines Polizeibeamten, der vermutlich wegen seines Vorgehens gegen Korruption ermordet wurde, zu recherchieren, ist als Flüchtling anzuerkennen. Die Verfolgung stellt nicht nur eine kriminelle Bedrohung dar, sondern hat eine politische Dimension, da sie im Zusammenhang mit der Korruptionsbekämpfung steht und von einflussreichen Gegnern ausgeht. Eine inländische Fluchtalternative ist nicht möglich.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, Korruption, Herat, Polizei, Tötung, Mord, interne Fluchtalternative,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger kann beanspruchen, dass das Bundesamt seine Flüchtlingseigenschaft sowie Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 1 AufenthG feststellt. [...]

Von einer nach § 60 Abs. 1 AufenthG erheblichen Verfolgung war auch der Kläger bedroht. Er hat glaubhaft gemacht, dass er aus Furcht vor weiteren, zumindest lebensgefährlichen Attacken von Herat ausgereist ist, die von wirkmächtigen Personen aus dem Polizeiapparat ausgegangen sind, nachdem er zu den Todesumständen seines vielleicht ermordeten Vaters recherchiert hatte. Das Gericht ist zu dieser Überzeugung aufgrund der eigenen Befragung, des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindrucks sowie der durchgeführten Beweisaufnahme gelangt. Im Zuge seiner intensiven Befragung in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger mit seinen plausiblen Antworten anfängliche Zweifel des Gerichts zerstreuen und im angefochtenen Bescheid genannte Ungereimtheiten beseitigen können. Das Gericht nimmt dem Kläger insbesondere ab, dass er in seiner Heimatstadt Herat von Polizeibeamten, ehemaligen Kollegen seines verstorbenen Vaters, bedroht und schließlich sogar mit Sprengmitteln angegriffen worden ist, nachdem er versucht hatte herauszufinden, ob sein Vater als mit Personalangelegenheiten befasster und wahrscheinlich hochrangiger Polizist umgebracht worden war, weil er sich gegen Korruption im Polizeiapparat eingesetzt hat. Der Kläger hatte etwa fünf Monate nach dem Tod seines im Juli 2008 gestorbenen Vaters von einem namentlich genannten anderen Polizisten und engen Freund des Vaters erfahren, dass sein Vater in seiner Dienststelle wahrscheinlich vergiftet worden war, weil er sich gegen Korruption gewandt hatte. Der Kläger hat sich diesbezüglich zunächst an einen hochrangigen Polizeibeamten (den Kommandanten) sowie an einen Arzt im Krankenhaus gewandt, ohne eine Bestätigung des Tötungsverdachts zu erhalten. Allerdings ist er wegen seiner Nachforschungen und seines dabei verfestigten Mordverdachts von zwei Unbekannten offen bedroht, zusammengeschlagen und sogar mit Sprengmitteln angegriffen und verwundet worden. Soweit das Bundesamt im angegriffenen Bescheid davon ausgegangen ist, eine konkrete Gefährdungssituation habe nicht vorgelegen, weil dem Kläger in den letzten Monaten vor seiner Ausreise nichts widerfahren sei, hat der Kläger im Laufe des gerichtlichen Verfahrens überzeugend klargestellt, dass nicht nur seine Mutter - wie bereits in der Anhörungsniederschrift bemerkt - in der Folgezeit das eigene Haus gemieden hat, sondern auch der Kläger, der seine nunmehr auch durch die Facharztbescheinigung vom 06.10.2011 bestätigten Brandverletzungen im Haus einer sog. Nenntante auskuriert und sich auch im Übrigen bis zur Ausreise tunlichst versteckt gehalten hat. Dass die lebensnahen Schilderungen des Klägers zu dem von ihm glaubhaft bekundeten Reaktionen geführt haben, lässt sich schließlich auch den Angaben des Auswärtigen Amtes in seiner Stellungnahme vom 26.06.2012 entnehmen, in denen das Auswärtige Amt immerhin einräumt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger sich durch seine Nachforschungen gefährdet hat. Letztlich sieht das Gericht eine Bestätigung auch darin, dass es dem Auswärtigen Amt selbst nicht möglich gewesen ist, Einzelheiten über die dienstliche Tätigkeit des Vaters des Klägers in Erfahrung zu bringen.

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes muss die dem Kläger bereits in Afghanistan widerfahrene Verfolgung als politische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG bewertet werden. Aus der für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Sicht seiner Verfolger (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EG vom 05.08.2005 Nr. L 204 S. 24 - sog. Qualifikationsrichtlinie) i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) knüpfen die gegen den Kläger ergriffenen und ihn weiterhin bedrohenden Maßnahmen maßgeblich auch an seiner politischen Überzeugung an. Er hat mit seinen Nachforschungen zum Tod seines Vaters und insbesondere auch mit der von ihm geäußerten These, sein Vater sei wegen seines Engagements gegen Korruption im Polizeiapparat umgebracht worden, im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der Qualifikationsrichtlinie eine Meinung bzw. Grundhaltung vertreten, die offenbar von den beteiligten Angehörigen des afghanischen Staatsapparates als hinreichender Grund für die gegen den Kläger ergriffenen Maßnahmen erachtet worden ist. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob angesichts der ebenso archaischen wie brutalen Vorstellungen von Blutrache und Sippenhaft, die in Afghanistan bestehen, bereits der Versuch, einen potentiellen Blut-Rächer auszuschalten, als politische Verfolgung qualifiziert werden kann. Hier kommt hinzu, dass die vom Kläger angenommene Ermordung seines Vaters auch mit dessen Aktivitäten zur Korruptionsbekämpfung gesehen werden können, die dem Geschehen eine eindeutig politische Dimension geben. Der Umstand, dass Korruption formal betrachtet auch in Afghanistan strafbar ist, qualifiziert die Gefährdung des Klägers nicht zu einer für den Flüchtlingsschutz vielleicht unerheblichen, rein kriminellen Bedrohung. Sie ist als erhebliche Verfolgung zu qualifizieren, selbst wenn angenommen werden kann, dass es innerhalb der afghanischen Polizei verschiedene Auffassungen zum Thema Korruption bzw. Korruptionsbekämpfung geben wird. Die Frage, nach welchen Regeln und mit welchen Machtmitteln innerhalb der Polizeiorganisation um Einfluss und Bedeutung gestritten wird, ist keine nicht-politische Frage, sondern eine Frage, die im Zentrum jeder Diskussion um die Art und Sicherung der organisierten Verfasstheit eines Gemeinwesens steht und demgemäß weitreichende allgemeine, nicht auf individuelle Problemlagen beschränkte Bedeutung hat. Nicht zuletzt die vom Kläger glaubhaft geschilderten Weiterungen, die im Zuge seiner Nachforschungen eingetreten sind, zeigen auf, dass er - wie wahrscheinlich auch sein Vater - von ernst zu nehmenden Gegnern bedroht worden ist, die auch nicht vor Tötungsdelikten zurückschrecken, um ihre (staatlichen) Machtpositionen zu schützen. Selbst wenn ihr Tun dem afghanischen Staat nicht zugerechnet werden könnte, wäre es als die Aktivität nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG relevant. Angesichts der allgemein bekannten hochgradigen Korruptionsproblematik in Afghanistan ist bereits zweifelhaft, ob von gegenüber solchen Machenschaften überhaupt von einer staatlichen Schutzwilligkeit des afghanischen Staates gesprochen werden könnte. Eine tatsächliche Schutzfähigkeit ist jedenfalls nicht gegeben. Die afghanische Polizei wird ihrer Aufgabe der Durchsetzung von Recht und Gesetz nach wie vor nicht gerecht, die Mehrzahl der Polizisten sind Analphabeten von niedrigem Ausbildungsstand und hoher Korruptionsanfälligkeit, eher ein Unsicherheits- denn ein Sicherheitsfaktor (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28.10.2009, S. 12 f.; Lagebericht vom 10.01.2012, S. 4 und 12 f.), so dass eine Schutzgewährung tatsächlich ausscheidet.

Der Kläger hatte und hat keine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan. Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ist zur Beantwortung der Frage, ob eine - hier in Form der ernsthaften Bedrohung mit dem Tode - bereits erlittene Verfolgung auch landesweit droht, auf die Beweiserleichterung zurückzugreifen, die § 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie vorschreibt. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller - wie hier der Kläger - von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Solche stichhaltigen Gründe sind nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann insbesondere nicht angenommen werden, der Kläger sei in einer anderen Gegend Afghanistans, namentlich in Kabul oder in Mazar-e Sharif, vor weiteren Nachstellungen hinreichend sicher. Die diesbezüglichen Angaben des Bundesamts beruhen auf bloßen Mutmaßungen. Insbesondere die Annahme, mangels konkreter Kenntnis über Bedrohungen gegenüber anderen Verwandten sowie des namentlich genannten Informanten des Klägers könne angenommen werden, dass auch der Kläger außerhalb seiner Heimatstadt nicht mehr bedroht wäre, ist dem Gericht nicht nachvollziehbar. Sie beruht auf einer bloßen Vermutung, die sich bestenfalls darauf stützen kann, dass der Kläger bei seiner Anhörung angegeben hat, noch Verwandte in Afghanistan zu haben, ohne - ungefragt - zu erwähnen, ob auch diese bedroht worden sind. Da seine Mutter nach seinen jüngsten glaubhaften Angaben zumindest seit 2 Jahren nicht mehr in Afghanistan, sondern im Iran lebt und er weiteren Kontakt zu seinem Informanten nicht gehabt hat, seht das Gericht keinen Anhaltspunkte für die Annahme, die früheren Verfolger hätten nunmehr kein Interesse mehr am Kläger. Da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Polizeiapparat angehören, werden sie weiterhin schon zum Schutz ihrer Machtstellung und Einkommensmöglichkeiten ein Interesse daran haben, dass der Kläger auch zukünftig weitere Nachforschungen zur mutmaßlichen Ermordung seines Vaters wegen dessen Einsatz gegen die Korruption unterlässt. Demgemäß ist es eher wahrscheinlich, dass sie weiterhin vor dem Kläger auf der Hut sind und ihn gewiss auch finden würden, wenn er den in Afghanistan nicht leichten Versuch unternähme, sich über längere Zeit an einem anderen Ort versteckt zu halten. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom 03.09.2012 überzeugend ausführt, dass es (selbst) den Taliban praktisch überall in Afghanistan möglich sei, gesuchte Personen aufzufinden. Demgemäß wird dies erst recht den Angehörigen der Polizei möglich sein, die schon vor der Ausreise des Klägers dafür gesorgt haben, dass er angegriffen und ernsthaft verletzt worden ist. [...]