BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 26.02.2002 - 1 C 21.00 - asyl.net: M2042
https://www.asyl.net/rsdb/M2042
Leitsatz:

1. Der Begriff der Niederlassungsfreiheit i.S.v. Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei bestimmt sich nach Art. 43 ff. EG (früher Art. 52 ff. EG-Vertrag).

2. Die Anwendung der eine Ausweisung für den Regelfall vorsehenden Vorschrift des § 47 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG auf eine wegen einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilte türkische Staatsangehörige verstößt nicht gegen Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei.

3. Einem minderjährig eingereisten Ausländer steht nach Maßgabe von § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG besonderer Ausweisungsschutz unabhängig davon zu, ob die Einreise im Wege des Ehegattennachzuges erfolgte.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, Straftäter, Drogendelikte, Freiheitsstrafe, Ausweisung, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Minderjährige, Ehegattennachzug, Atypischer Ausnahmefall, Ermessen, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Stillhalteklausel, Assoziationsabkommen EWG/Türkei
Normen: AuslG § 47 Abs. 1; AuslG § 47 Abs. 3; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Auszüge:

 

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs steht die Stillhalteklausel der Anwendbarkeit der eine Ausweisung für den Regelfall vorsehenden Vorschriften des § 47 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG auf den hier gegebenen Fall der Ausweisung einer türkischen Staatsangehörigen aufgrund einer nach dem Betäubungsmittelgesetz verhängten (...) nicht entgegen. Keiner Entscheidung bedarf, was in sonstigen Fällen einer Regel-Ausweisung und bei einer Ist-Ausweisung gelten würde. Offen bleiben kann auch, ob die Herleitung eines erhöhten Ausweisungsschutzes für die Klägerin aus Art 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll entsprechend der Ansicht der Revision bereits aus anderen Gründen ausscheidet, namentlich im Hinblick auf das Verbot des Art 59 Zusatzprotokoll, der Türkei eine günstigere Behandlung zu gewähren als diejenige, die sich die Mitgliedsstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.

Die Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG ist hier gemäß Abs. 3 Satz 1 dieser Vorschrift auf eine Regelausweisung herabgestuft, da für die Klägerin besonderer Ausweisungsschutz gilt. Sie erfüllt nämlich - entgegen der im erstinstanzlichen Urteil (UA S. 8 f.) und im Widerspruchsbescheid vom 18. November 1997 vertretenen Auffassung - die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG, da sie im maßgeblichen Zeitpunkt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaß und als Minderjährige in das Bundesgebiet eingereist ist. Hinsichtlich der zuletzt genannten Voraussetzung stellt die Vorschrift schon nach ihrem Wortlaut allein auf die Einreise als Minderjährige ab. Sie ist auch anzuwenden, wenn die Einreise - wie hier - im Wege des Ehegattennachzuges erfolgt ist.

Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ist darauf abzustellen, ob die von den zuständigen Behörden angewandte innerstaatliche Regelung der Situation des türkischen Staatsangehörigen im Verhältnis zu den Vorschriften, die zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Zusatzprotokolls im Jahre 1972 galten, erschwert, für ihn also im konkreten Einzelfall ungünstiger ist (vgl. EuGH Savas a. a. O. Rn. 70 f.). Das ist hier nicht der Fall. Das damals geltende Ausländergesetz 1965 sah in § 10 generell eine Ermessensentscheidung vor, wenn die Voraussetzungen eines der in der Vorschrift abschließend aufgeführten Ausweisungsgründe erfüllt waren (vgl. besonders Abs. 1 Nr. 2 bei Verurteilung wegen einer Straftat). Außerdem bestimmt

§ 11 AuslG 1965 für einige privilegierte Personengruppen Einschränkungen der Ausweisung. Mit dem Ausländergesetz 1990 sind an die Stelle eines Katalogs von Tatbeständen für die pflichtgemäße Ausübung des Ausweisungsermessens Vorschriften getreten, die aufgrund einer typisierenden Betrachtung des Gesetzgebers zwischen Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung unterscheiden (vgl. auch Urteil vom 16. November 1999 - BVerwG 1 C 11.99 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 19, S. 6; Beschluss vom 30. Dezember 1993 - BVerwG 1 B 185.93 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 3). Zugleich wollte der Gesetzgeber mit § 48 Abs. 1 AuslG die verschiedenen gesetzlichen und in der Rechtsprechung entwickelten Privilegierungstatbestände auf der höchsten anerkannten Stufe des Ausweisungsschutzes zusammenfassen (BTDrucks 11/6321, S. 763; vgl. auch Urteil vom 11. Juni 1996 - BVerwG 1 C 24.94 - BverwGE 101, 247, 262 f.). Für den vorliegenden Fall der Verurteilung einer nach § 48 Abs. 1 AuslG privilegierten Ausländerin zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe nach dem Betäubungsmittelgesetz sah § 47 Abs. 3 Satz 2 des Ausländergesetzes 1990 in der Fassung vom 09. Juli 1990 (BGBI I S. 1354) die Herabstufung der an sich nach Abs. 2 dieser Bestimmung vorgesehenen Regelausweisung zu einer Ausweisung nach Ermessen vor. Mit der Novellierung des Ausländergesetzes durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 (BGBI I S. 3189) entfiel für diese Fallkonstellation das generelle Erfordernis einer Ermessensentscheidung. Das Ausländergesetz sieht insoweit, wie bereits dargelegt, die Herabstufung der Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG zu einer Regelausweisung vor. Das Gesetz geht damit für den typischen Fall davon aus, dass die Ausweisung geboten und verhältnismäßig ist, um schwerwiegenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entgegenzuwirken. Nur für Ausnahmefälle ist eine Ermessensentscheidung vorgesehen. Aus dem Umstand, dass der Ausländerbehörde danach bei der Entscheidung über die Ausweisung im Regelfall kein Rechtsfolgeermessen bleibt, ergibt sich entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichthofs kein Verstoß gegen das Stillhaltegebot des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll. Bei der insoweit maßgeblichen Prüfung, ob ein türkischer Staatsangehöriger seit In-Kraft-Treten des Stillhaltegebots bei gleicher Fallgestaltung strengeren Bedingungen unterworfen wird (unklar Rundschreiben des Bundesministeriums des Inneren vom 25. September 2001, InfAuslR 2002, 5 unter 3 c) bzw. Hinweis in Anlage 1), sind die Rechsprechung zu den einschlägigen damaligen Vorschriften und eine mit dieser in Erklang stehende Verwaltungspraxis zu berücksichtigen. Zur Zeit der Geltung des Ausländergesetzes 1965 hatte die Rechtsprechung Grundsätze herausgearbeitet, die den rechtlichen Rahmen für die behördliche Ermessensausübung bildeten (vgl. z. B. Beschluss vom 02. Juni 1983 - BVerwG 1 B 80.83 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 96 m. w. N.). Bereits in der damaligen Rechtsprechung ist wiederholt betont worden, dass Rauschgiftdelikte, namentlich in den Fällen der Beteiligung am illegalen Drogenhandel, zu den gefährlichen und schwer zu bekämpfenden Delikten gehören (vgl. z. B. BverfGE 51, 386, 397 ff.; Urteil vom 13. November 1979 - BverwG 1 C 100.76 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 68 S. 98). Wegen der hohen Gefährlichkeit des illegalen Rauschgifthandels stellte es danach regelmäßig eine pflichtgemäße Ermessensbetätigung dar, nach einer entsprechenden Verurteilung die Ausweisung zu verfügen (vgl. Beschluss vom 02. März 1987 - BVerwG 1 B 4.87 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 113 S. 2; vgl. auch BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, NVwZ 1987, 403). Im Einklang mit dieser Rechtsprechung sah die allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes in der geänderten Fassung vom 10. Mai 1972 (GMBI 1972, S. 331) in Nr. 9 a zu § 10 vor, dass ein Ausländer, der gegen eine strafbewehrte Vorschrift des Betäubungsmittelgesetzes verstoßen hat, in der Regel auszuweisen war. Diese frühere Rechtslage und Verwaltungspraxis hat der Gesetzgeber im Ausländergesetz 1990 lediglich typisierend festgeschrieben. Nichts anderes ergibt sich aus der amtlichen Begründung für die mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz im Jahre 1994 vorgenommenen Änderung (BTDrucks 12/6863, S. 30), wonach im Interesse einer konsequenten Bekämpfung der Drogenkriminalität der Grundsatz gelten müsse, dass ausländische Drogentäter ihr Aufenthaltsrecht verwirken und aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden. Hieraus kann ebenfalls nicht geschlossen werden, dass der Gesetzgeber eine "Verschlechterung" der Situation des Ausländers in Fällen wie dem vorliegenden beabsichtigt hat, da wegen Drogendelikten bestrafte Ausländer - wie oben ausgeführt - bereits aufgrund der früheren Rechtslage im Regelfall ausgewiesen werden sollten und ausgewiesen worden sind. Danach wirkt sich die hier maßgebliche neue Rechtlage für die Klägerin nicht als Verschlechterung aus.