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SG Osnabrück

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Zitieren als:
SG Osnabrück, Beschluss vom 07.05.2013 - S 44 AY 7/13 ER - asyl.net: M20765
https://www.asyl.net/rsdb/M20765
Leitsatz:

Verhaltensbedingte Leistungskürzungen sind im Fürsorgerecht grundsätzlich zulässig und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch mit dem Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 GG vereinbar. Eine Leistungskürzung um 23 % der Regelleistung ist dabei grundsätzlich vertretbar. Eine Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG ist jedoch nur dann verhältnismäßig, wenn der Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen allein an der fehlenden Mitwirkung des Leistungsberechtigten scheitert. Voraussetzung hierfür ist eine Aufforderung zur Mitwirkung mit Fristsetzung, die spätestens im Rahmen der Anhörung zu konkretisieren ist. Fehlt es an diesen formellen Anforderungen, ist die Leistungskürzung nicht rechtmäßig.

Schlagwörter: Leistungskürzung, Leistungseinschränkung, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, rechtsmissbräuchliches Verhalten, Rechtsmissbrauch, Mitwirkungspflicht, Kausalität, Anhörung, Verwaltungsakt, Belehrung, Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht,
Normen: AsylbLG § 1a, AsylbLG § 1a Nr. 2,
Auszüge:

[...]

I.

Nach Auffassung der Kammer ist eine Leistungseinschränkung nach § 1a Nr. 2 AsylbLG auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) weiterhin möglich.

1. Grundsätzlich sind im Fürsorgerecht verhaltensbedingte Leistungskürzungen wie z.B. in den §§ 31 SGB II, § 26, 41 Abs. 4 SGB XII zulässig und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch mit dem Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 GG [für] vereinbar. Wer rechtsmissbräuchlich Leistungen beansprucht, muss sich Einschränkungen gefallen lassen. Das Sozialstaatsprinzip ist grundsätzlich dann gewahrt, wenn die Leistungen eingeschränkt, aber nicht vollends versagt werden [...].

Die Sanktionen nach § 31a SGB II sind nach der ganz herrschenden Auffassung verfassungsgemäß, weil sich der Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch den Zweck der Sanktion (Arbeitsvermittlung) rechtfertigen lässt (vgl. Berlit in LPK-SGB 11, 4. Aufl. 2011, § 31 a RdNr. 4; Knickrehm in FS Gagel, 2011, S. 85; Davilla SGb 2010, 559; a.A. Neskovic/Erdem, Sgb 2012, 134; dies., SGb 2012, 326 ff.). Vor diesem Hintergrund hat die Kammer keine grundsätzlichen Bedenken im Hinblick auf die Verfassungsgemäßheit der Leistungseinschränkung nach § 1a Nr. 2 AsylbLG. Durch diese soll ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 1a AsylbLG eine Privilegierung von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG im Vergleich zu deutschen Sozialhilfeempfängern und legal in Deutschland lebenden Ausländern verhindert werden (so ausdrücklich BT-Drucks. 13/10155, S. 5 linke Spalte a.E.).

2. Etwas anderes ergibt sich nach Auffassung der Kammer auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11).

Danach ist die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren. Migrationspolitische Erwägungen, Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein international vergleichbares hohes Leistungsniveau zu vermeiden, könnten daher von vornherein ein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum nicht rechtfertigen (vgl. Rn. 121). Dies ist nicht so zu verstehen, dass keinerlei Leistungseinschränkungen zulässig sind. Die Ausführungen des BVerfG beziehen sich auf die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, die grundsätzlich jedem Leistungsberechtigten zu gewähren sind und deren Höhe so zu bemessen ist, dass das Existenzminimum gesichert ist. Dies bedeutet indes nicht, dass nicht im Einzelfall eine Leistungseinschränkung vorgenommen werden kann, wenn der Leistungsberechtigte gegen seine Mitwirkungspflichten verstößt (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.3.2013 - L 8 AY 59/12 B ER).

Im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bedarf die Vorschrift in § 1a Nr. 2 AsyIbLG allerdings einer einschränkenden Auslegung. Es handelt sich nicht um eine Strafnorm, mit der ein missbilligtes Verhalten sanktioniert werden soll, sondern der Leistungsberechtigte soll zur Mitwirkung angehalten werden. Eine Leistungskürzung ist nur dann verhältnismäßig, wenn der Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen allein an der fehlenden Mitwirkung des Leistungsberechtigten scheitert und nicht andere Gründe maßgeblich sind (vgl. Oppermann, in jurisPK-SGB XII, 1. Aufl. 2011, § 1a AsylbLG, Rn. 52). Darüber hinaus muss eine konkrete, zumutbare und tatsächlich erfüllbare Mitwirkungspflicht des Leistungsberechtigten bestehen (vgl. LSG Sachsen, Beschluss vom 19.01.2011 - L 7 AY 6/09 B ER; ähnlich LSG NRW im Sitzungsprotokoll des Verfahrens L 20 AY 10/07 vom 14.02.2011: konkrete Handlungsaufforderungen hinsichtlich vom Kläger auch erfüllbarer Handlungen; siehe zu alldem auch umfassend: SG Detmold, Urteil vom 21.03.2013, S 16 AY 13/11).

II.

Unter Berücksichtigung der einschränkenden Auslegung des § 1a Nr. 2 AsylbLG ist die von der Beklagten in dem Bescheid vom 29.08.2012 verfügte Kürzung der Leistungen um ca. 23 % nicht rechtmäßig.

1. Die Kürzung um einen Betrag von 23 % der Regelleistung hält die Kammer grundsätzlich vertretbar.

Gerade im Vergleich mit dem SGB II stellt sich nach Ansicht der Kammer eine Kürzung um bis zu 30 % der Regelleistung (in der Fassung des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10) als unproblematisch dar. Dabei kann es nach Ansicht der Kammer auch nicht zwingend darauf ankommen, wie diese Kürzung begründet ist. In diesem Zusammenhang hält es die Kammer nämlich für fraglich, dass die Grundleistungen als Ansatzpunkt genommen wurden (50 % der Leistungen nach § 3 Abs. 1 AsylbLG). Da sich dies insgesamt aber nur in Höhe von ca. 23 % der Regelleistung auswirkt, sieht die Kammer die Kürzung selbst als grundsätzlich möglich an. [...]

2. Die formellen Anforderungen an die Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG wurden nicht erfüllt.

Da mit der Bewilligung nach § 1a AsylbLG die Rechte des Leistungsberechtigten gegenüber der Regelbewilligung nach § 3 AsylbLG verkürzt werden, ist er vor der Entscheidung anzuhören (§ 28 VwVfG). Darüber hinaus ist spätestens im Rahmen der Anhörung vom Leistungsberechtigten eine konkrete Handlung oder Unterlassung zu verlangen und ihm hierfür eine angemessene Frist zu setzen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28.09.2007, L 8 B 11/06 AY ER). Diese formellen Anforderungen sind hier nicht erfüllt.

Eine Aufforderung zur Mitwirkung mit Fristsetzung hat es durch die Leistungsabteilung des Antragsgegners - soweit ersichtlich - nicht gegeben. Zwar wurde nun mündlich vorgetragen, dass der Mitarbeiter des Antragsgegners den Antragsteller mündlich belehrt habe, warum die Kürzung erfolgt, dies ist aber einerseits bereits acht Jahre her, zum anderen kann im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht aufgeklärt werden, ob diese Belehrung stattgefunden hat und - wenn ja - welchen Umfang diese Belehrung hatte. Zudem wäre auch dann das Verfahren nicht eingehalten, da es - nach den telefonischen Angaben vom heutigen Tag - seit der Entlassung aus der Abschiebehaft keine ungekürzte Leistungsgewährung gab. Der Antragsteller wurde dementsprechend nicht unter Fristsetzung aufgefordert, sein Verhalten zu ändern.

Diese Voraussetzungen - Aufforderung zur Mitwirkung unter Fristsetzung und Androhung der abgesenkten Leistungsgewährung - sind auch dann einzuhalten, wenn eine erstmalige Gewährung oder - wie im vorliegenden Fall - eine erneute Gewährung vorliegt, also nicht ein belastender Verwaltungsakt in Form einer Leistungsabsenkung gegeben ist. Auch bei einer erstmaligen Gewährung ist dem Antragsteller die Möglichkeit zu geben, sein bisher unterlassenes Verhalten nachzuholen. Gerade vor dem Hintergrund der hohen Anforderungen des BSG an die Rechtsfolgenbelehrungen im Sperrzeit- bzw. Sanktionsrecht im SGB III und SGB II sind - gerade wenn auch zulasten des Leistungsbeziehers ein Vergleich mit diesen Leistungen vorgenommen wird - hohe Anforderungen an die Belehrung und das Verwaltungsverfahren zur Kürzung der Leistungen zu konstatieren (zum SGB III siehe beispielsweise: BSG, Urteil vom 16.09.1999, B 7 AL 32/98 R; zum SGB 11 beispielsweise: BSG, Urteil vom 17.12.2009, B 4 AS 30/09 R).

Hinzu kommt, dass das LSG Niedersachsen-Bremen bezüglich der zeitlich grundsätzlich unbefristeten Sanktionsmöglichkeit des § 1a AsylbLG ausgeführt hat, dass der Ausländer in regelmäßigen Abständen zu einer Mitwirkung unter Fristsetzung aufzufordern ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.03.2013, L 8 AY 59/12 B ER). Solche Aufforderungen hat es hier - soweit ersichtlich - nicht gegeben. Die letzte aktenkundige Erklärung zu den Mitwirkungspflichten erfolgte in der Abschiebehaft. Zur Erfüllung der formellen Anforderungen des § 1a AsylbLG genügen zudem auch nicht die Ausführungen des Antragsgegners im Rahmen des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG. Ebenso wenig genügt die jeweilige Begründung der Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG als Aufforderung. [...]