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OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 12.04.2013 - 2 So 24/13 - asyl.net: M20923
https://www.asyl.net/rsdb/M20923
Leitsatz:

Allein die Vermutung, der Ausländer könne im Besitz von Identitätspapieren sein, rechtfertigt ohne weitere tatsächliche Anhaltspunkte die Anordnung einer Durchsuchung nicht. Die Überlegung, eine Einreise nach Europa/Deutschland ohne gültige Personalpapiere sei nahezu undenkbar, kann allenfalls genügen, wenn die Durchsuchung in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise erfolgt.

Schlagwörter: Durchsuchung, Durchsuchung der Person, Ausländerbehörde, Mitwirkungspflicht, minderjährig, Vormund, Personendurchsuchung, unbegleitete Minderjährige, Identitätspapiere, Urkunden, Unterlagen, Papiere,
Normen: AufenthG § 48 Abs. 3, AufenthG § 80 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ein Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, ist nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken sowie alle Urkunden und sonstigen Unterlagen, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Kommt der Ausländer dieser Verpflichtung nicht nach und bestehen tatsächliche Anhaltspunkte, dass er im Besitz solcher Unterlagen ist, können er und die von ihm mitgeführten Sachen durchsucht werden (§ 48 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) und hat er die Maßnahme zu dulden (§ 48 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).

Nach der Darstellung des Sachverhalts durch die Beklagte hat der Kläger die von ihm mitgeführten Sachen zwar freiwillig herausgegeben, aber nicht auch in deren Durchsuchung eingewilligt, so dass es jedenfalls insoweit - unstreitig - auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 AufenthG ankommt. Die von dem Kläger behauptete Durchsuchung seines Mobiltelefons könnte unabhängig davon nicht auf § 48 Abs. 3 AufenthG gestützt werden, weil diese Vorschrift nur die Durchsuchung von Urkunden und Unterlagen zulässt, die Aufschluss über die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers geben bzw. seine Rückführung ermöglichen. Da für eine Durchsuchung des Mobiltelefons nach den bislang bekannten Umständen des Falles auch keine andere Ermächtigungsgrundlage in Frage kommt, wird das Verwaltungsgericht dem Beweisangebot des Klägers auf Zeugenvernehmung zu folgen haben.

Der Kläger gibt selbst an, keinen gültigen Pass oder Passersatz zu besitzen, so dass er der Mitwirkungspflicht des § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG unterliegt. Er stellt aber mit guten Gründen in Zweifel, dass er seine bestehende Mitwirkungspflicht verletzt hat. Insoweit ist im Tatsächlichen zwischen den Beteiligten bereits streitig, ob die Beklagte dem Kläger eine Mitwirkungshandlung auferlegt oder das Verlangen erklärt hat, Unterlagen vorzulegen, die Aufschluss über seine Identität und Staatsangehörigkeit geben bzw. seine Rückführung ermöglichen. Selbst wenn dies geschehen sein sollte, stellt sich die Frage, ob eine entsprechende Verfügung nicht an den gesetzlichen Vertreter des Klägers, den bestellten Amtsvormund, hätte gerichtet werden müssen (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand 11/2012, § 48 AufenthG Rn. 9), weil der Kläger ein Minderjähriger unter 16 Jahren ist, der im aufenthaltsrechtlichen Verfahren gemäß § 80 Abs. 1 AufenthG nicht handlungsfähig ist. Was die umstrittene Frage des tatsächlichen Alters des Klägers angeht, ist festzustellen, dass der Kinder- und Jugendnotdienst am 2. Februar 2012 vermerkt hat, nach dem äußeren Erscheinungsbild, dem Verhalten und den Angaben des Klägers sei davon auszugehen, dass dessen Altersangabe den tatsächlichen Verhältnissen entspreche. Entgegen den Zweifeln der Ausländerbehörde schloss sich die Polizei in ihrem Schreiben vom 6. Juli 2012 dieser Einschätzung an und lehnte die Einleitung einer Altersbegutachtung des Klägers ab.

Auch hinsichtlich des Vorliegens der zweiten Voraussetzung für die Durchsuchung, ob tatsächliche Anhaltspunkte bestanden, dass der Kläger im Besitz von Unterlagen war, die Aufschluss über die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers geben bzw. seine Rückführung ermöglichen, bestehen gewichtige Bedenken. Insoweit müssen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer im Besitz der in Betracht kommenden Unterlagen ist (Grünewald in: GK-AufenthG, Stand 4/2006, § 48 Rn. 56). Allein die Vermutung, der Ausländer könne im Besitz von Identitätspapieren sein, rechtfertigt ohne weitere tatsächliche Anhaltspunkte die Anordnung einer Durchsuchung nicht (BVerfG, Beschl. v. 22.3.1999, NJW 1999, 2176). Die von dem Verwaltungsgericht angestellte Überlegung, eine Einreise nach Europa/Deutschland ohne gültige Personalpapiere sei nahezu undenkbar, hätte demnach allenfalls genügt, wenn die Durchsuchung in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise erfolgt wäre. Ebenso wenig dürfte der bloße Hinweis des Gerichts genügen, dass sich in den Jackentaschen des Klägers sichtbar Gegenstände befunden haben sollen. Demgegenüber wendet der Kläger zu Recht ein, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung häufig irgendwelche Gegenstände in Jackentaschen mitgeführt werden. Die tatsächlichen Anhaltspunkte müssen aber auf den Besitz von Unterlagen hinweisen, die Aufschluss über die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers geben bzw. seine Rückführung ermöglichen. Derartige Anhaltspunkte können z.B. in einem konkreten Verhalten des Ausländers liegen, insbesondere in der Weigerung, wahrnehmbare Unterlagen für eine Inaugenscheinnahme vorzulegen, oder in Hinweisen Dritter. Im Übrigen fragt sich, wie die diversen Gegenstände aussahen, die sich "sichtbar" in den Taschen des Klägers befunden haben sollen, und weshalb die im Vermerk vom 25. September 2012 erstmals angeführten ebenfalls sichtbaren Papiere in den Taschen des Klägers in der Anordnung der Durchsuchung vom 26. Juni 2012 keine Erwähnung gefunden haben. [...]