VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 10.07.2013 - 4 A 1150/12 - asyl.net: M21000
https://www.asyl.net/rsdb/M21000
Leitsatz:

Die Sperrwirkung einer Ausweisung kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, wenn die ordnungsrechtlichen Zwecke sämtlich erreicht sind. Ist dies der Fall, kommt eine zeitliche Befristung selbst dann nicht in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist. Für die Berechnung der Dauer der Frist ist dann nicht auf die Ausreise, sondern auf die Ausweisung abzustellen.

Schlagwörter: Ausweisung, Befristung, Wirkung der Ausweisung, Befristung der Ausweisung, Befristung der Wirkungen der Ausweisung, Ermessensreduzierung auf Null, Jetzt-Zeitpunkt, Fristdauer, Dauer der Frist, Dauer, Einreisesperre, Einreiseverbot, Aufenthaltsverbot, Sperrwirkung, Beurteilungszeitpunkt, Zweck der Ausweisung, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 11, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Auffassung des Beklagten liegt mit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag keine unzulässige Klageänderung vor. Die in der mündlichen Verhandlung erfolgte Klarstellung des Befristungszeitraums verändert den Streitgegenstand nicht und ist daher nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 3 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen. Doch selbst wenn man die Einschränkung des Befristungszeitraums als Klageänderung ansehen würde, wäre sie jedenfalls sachdienlich (§ 91 Abs. 1 VwGO).

Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Wirkungen der am 02.04.98 erfolgten Ausweisung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, also den 10.07.12 befristet werden.

Zu dem Befristungsanspruch nach § 11 AufenthG hat die Kammer mit Urteil vom 13.03.12 (4 A 4199/10) grundsätzlich ausgeführt:

"Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, und zwar auch dann, wenn die Behörde bereits eine Ermessensentscheidung getroffen hat, um deren Überprüfung es geht" (VG Stuttgart, Urt. vom 30.01.12, 11 K 2368/11). Rechtsgrundlage der Befristungsentscheidung ist daher § 11 Abs. 1 AufenthG in der am 26.11.11 in Kraft getretenen Fassung. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ist die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.

Zu den Maßstäben der zu treffenden Ermessensentscheidung führt das VG Stuttgart (a.a.O.) zutreffend aus:

"Hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Sperrwirkung und zu den Gesichtspunkten, die bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen sind, trifft das Gesetz nunmehr allgemeine Regelungen. Danach ist die Bemessung der Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Bei der Bemessung der Länge der Frist ist zudem zu berücksichtigen, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (§ 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die Dauer der Sperrwirkung hat die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 40 LVwVfG) zu bestimmen. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Grundes für die Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezial- und/oder generalpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkung tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.07 - 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243). Die im Rahmen des ersten Schritts von der Behörde zu treffende Gefahrenprognose ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 19.12.08 - 11 S 1453/07 - VBlBW 2009, 274). Da die Zweckerreichung die Fristobergrenze darstellt, ist es nicht länger gerechtfertigt, die Sperrwirkung aufrechtzuerhalten, wenn die ordnungsrechtlichen Zwecke sämtlich erreicht sind. Ist der Zweck erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitliche Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.00 - 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369; VGH Mannheim, Urt. v. 26.03.03 - 11 S 59/03 - InfAuslR 2003, 333; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13.12.11 - 12 B 19.11 - juris).

In einem zweiten Schritt muss sich die an der Erreichung des Zwecks der Ausweisung orientierende äußerste Frist an höherrangigem Recht, vor allem an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.07 - 1 C 21.07 - a.a.O.). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind sämtliche schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Haben beispielsweise familiäre Belange des Betroffenen nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.07 - 1 C 21.07 - a.a.O.). Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.99 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140; Urt. v. 04.09.07 -1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 ; Urt. v. 04.09.07 -1 C 21.07 - a.a.O. und Urt. v. 13.04.10 -1 C 5.09 - BVerwGE 136,284)."

Die Kammer teilt zudem die Auffassung des OVG Berlin-Brandenburg (Urt. vom 13.12.11, OVG 12 B 20.11), dass mit der Gesetzesänderung in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG eine substantielle Änderung der Befristungsregelung auch in den Fällen verbunden ist, in denen das Gesetz es zulässt, dass die Frist von fünf Jahren überschritten wird. Auch in den Fällen einer auf strafgerichtlicher Verurteilung beruhenden Ausweisung ist von einer Höchstdauer der Frist von fünf Jahren auszugehen, die jedoch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles überschritten werden darf. Die Behörde hat aber bei der Ermessensausübung zu beachten, dass die Dauer des Einreiseverbotes grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten darf."

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ergibt sich ein Anspruch des Klägers, dass die Wirkungen der Ausweisung vom 02.04.98 im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null auf den Jetzt-Zeitpunkt befristet werden, weil sachliche Gesichtspunkte, die eine längere Frist rechtfertigen könnten, von der Beklagten nicht vorgetragen werden. und auch sonst nicht ersichtlich sind.

Unter Zugrundelegung der neuen Rechtslage rechtfertigt die 1998 erfolgte Ausweisung - isoliert betrachtet - keine Befristung, die die Dauer von fünf Jahren überschreitet, weil die nach der Gesetzesänderung erforderlichen besonderen Gesichtspunkte nicht vorliegen, die eine längere Dauer der Frist rechtfertigen könnten. Das Gericht hat keine Erkenntnisse, um etwa die Prognose zu rechtfertigen, der Kläger werde weiterhin mit Betäubungsmitteln handeln. Der für den Kläger vorliegende Zentralregisterauszug weist keine Eintragungen auf und auch der Beklagte behauptet nicht, dass für den Kläger noch ein Rückfallpotential besteht.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist für die Berechnung der Dauer der Frist nicht auf die Ausreise, sondern auf die Ausweisung aus dem Jahr 1998 abzustellen. Deren Sperrwirkung kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, wenn die ordnungsrechtlichen Zwecke sämtlich erreicht sind. Ist dies der Fall, kommt eine zeitliche Befristung - wie oben ausgeführt - selbst dann nicht in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist (so Urt. der Kammer vom 13.03.12, a.a.O.). Die gegen den Kläger verfügte Ausweisung liegt nunmehr 14 Jahre zurück. Selbst wenn der Beklagte zulasten des Klägers dessen fehlende Mitwirkung an der Aufklärung seiner Identität fristverlängernd berücksichtigen darf, rechtfertigt dies nicht eine Überschreitung der gesetzlichen Höchstfrist um knapp das Dreifache. Dies gilt umso mehr im Hinblick aus die mittlerweile erfolgte Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen. Dadurch haben familiäre Belange des Betroffenen nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, so dass sogar eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine die Höchstdauer von fünf Jahren unterschreitende Frist eingetreten ist. [...]